I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 264

23. Der Neg ins Freie
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dermanischen Geistes, eine im innersten unsoziale
unpolitische, höchst singuläre, willkürliche, aber
verinnerlichte Einzelkultur sein vorschwebendes
Ideal. Idealität im Sinne einer Verklärung und
Erhöhung des einzelnen Lebensgehaltes und Aus¬
drucks ist dieser germanischen Kunst eigenste
Natur. Ihr Lebenskreis, wie ihn am erhabensten
Goethe in seinen erzählenden Werken umschrieben,
wäre etwa als „Wunschkultur“ zu bezeichnen.
Eine eigentliche Gesellschaft, eine geistig
fruchtbare Realität des sozialen, politischen
Körpers besteht bisher noch nicht, der Deutsche
kennt keinen Gesellschaftsroman, wie auch seine
höchsten Interessen und Wünsche nicht gesell¬
schaftliche, sondern individuelle bleiben.
Dagegen ist der Romane das politische Ge
schöpf von Natur aus und ganz auf eine natio¬
nale Gesamtheit verwiesen, aufs engste mit allen
ihren fein gegliederten Schichten verbunden. Durch
das Medium des genialen Geistes fahren alle
Schläge, die den Leib der Nation als ungeheure
Nervenströme der Geschichte durchzucken und
lösen in seiner einzigen Außerung den repräsen¬
ativen Refler aus. So enthält Balzacs Deupre,
das räumlich und sachlich ungeheuerste, das ein
Dichter hinterließ, eine getreue Abfocmung seines
Dolkes, das Bild einer einzig durchgedachten und
verwirklichten sozialen Organisation von feinster
Anfühlung und innerster Zugehörigkeit. Die
soziale Natur einer Rasse arbeitet eine gesell¬
schaftliche Kultur aus, deren Ausdruck solche
epische Darstellungen werden. Balzacs schöpferische
Dämonie geht mit einer unverlierbaren Dolks¬
tümlichkeit zusammen. Er witterte das eigentliche
Zentrum der modernen Lebenskräfte, die heroisch
in Leidenschaften, Instinkten, Plänen, Taten,
auch einem homerischen Zeitalter nichts nach¬
geben, er sah das Geld als Spmbol und Aus¬
druck des Urwunsches der Menschenvereinigung
nach Macht, als erster und größter moderner
Epiker anerkannte er das Geld als primum mo¬
vens der Geschicke. Seine rasende, dabei folge¬
richtige und geistesgegenwärtige Phantasie, das
Herz seiner Droduktion bedient sich in höchstem
Feuer der Erregung, des Hathos, der zusammen¬
chlagenden Konflikte, der einfältigen und gelassenen
dreisten und natürlichen Rede eines Rhapsoden,
pricht Worte von erhabenster Einsicht, streut
Blitze einer Erkenntnis, die nur einem Olpmpier
zugehören, mit der Gleichgiltigkeit eines Kindes
aus, das einen Riesel schleudert.
So läßt er einmal einen Künstler zu seiner
Mutter, die ihr Herz an einen bösen Sohn ge¬
hängt hat, während sie den genialen und gro߬
herzigen nicht einmal würdigt, diese Worte
prechen:
„O, Mutter, du bist Mutter, wie Raffael
Maler war“, und für das treue Verständnis des
Künstlers findet er gelegentlich die schlichte Er¬
klärung: „alle großen Talente achten und be¬
greifen wahre Leidenschaften, sie erklären sie sich
und finden die Wurzeln zu ihnen in der eigenen
Brust, oder im Kopf.“
Das ist im Grunde auch der schlichte Aus¬
druck für Balzacs Größe, er trug die Wurzel
aller Leidenschaften in der eigenen Brust.
Otto Stoessl.
Kalenderfelte und Seelenfelte.
Die Kalenderfeste sind wie alle starren Ein¬
richtungen die Ursache einer besonderen Art von
Seelenstörungen. Unwillkürlich sucht ein jeder mit
dem äußerlichen Fest innerlich im Einklang zu
ein. Wer möchte nicht zu Ostern eine Erneuerung
eines Wesens verspüren, zu Ofingsten mit Er¬
leuchtung beschenkt werden, zu Weihnachten ge¬
rührt sein, zu Neujahr einen Markstein in seinem
Leben setzen können? Alles das wird uns ja
gelegentlich zuteil; aber es wäre doch zu schön,
wenn der äußere Anlaß und die innère Not
wendigkeit zusammenträfen. Der Kalender ver¬
leitet zu unzeitgemäßen Wünschen. Er führt zu
Unzufriedenheit mit dem jeweiligen Seelenzustand
man sucht sich zu einer Stimmung zu zwingen,
ie ein reines Gnadengeschenk ist. Erneuerung,
Erleuchtung, Rührung und andere bedeutsame
Empfindungen haben in jedem Leben eine ganz
bestimmte Stelle, von der sie nicht zu verrücken
sind. Sie verschaffen der Seele jene denkwür¬
digen Feiertage, die durch die schwerste Arbeit
nicht beeinträchtigt werden.
Ohne Kalenderfeste würde niemand darauf
achten, daß seine Seele eben einen Wochentag
hat. Aber von dem farbigen bewegten Außern
hebt sich das graue, träge Innere ab und da
beginnt die Auflehnung gegen die Unerbittlich¬
keit der Kaunen. Es gibt übrigens zwei Menschen¬
tppen. Der Mensch, der im allgemeinen leicht zu
beeinflussen ist, läßt sich auch durch Glocken¬
geläute, Lichter und frohe Wienen in die pas¬
sende Stimmung bringen. Der Unabhängige hin¬
gegen, der Mensch mit starren Launen, ist in
einer sehr unangenehmen Tage: Die Festlichkeit
vermag ihn nicht zu ändern und er vermag an
der Festlichkeit nichts zu ändern. Daher kommt
es dann, daß viele, mit feinem Gefühl für diesen
unausbleiblichen Konflikt, die Festfreuden fliehen
und in die Einsamkeit gehen, wo sie ohne Störung
nachdenklich, traurig, langweilig, alltäglich sein
können. Eine schlechte Laune ist noch nicht das
Argste; ärger ist eine gestörte Laune. Die schlechte
Laune, wenn sie von innen gerade gefordert
wird, ist durchaus erträglich.
Nicht alle freilich verfallen auf das probate
Mittel der Isolierung. Diele versuchen es doch
mit innerem Zwang und fügen sich auf diese
Weise noch das Unbehagen vergeblicher An
trengung zu. Diese seufzen dann befreit auf,
wenn die Feiertage vorüber sind. Was hilft ein
Kalenderfeiertag, wenn die Seele keinen Feiertag