I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 277

ins Freie
23. Der bei
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ohne in die Tiefe zu dringen, es sei denn in die Tiefen
der Charaktere, die sich so offenbaren. Und das Gegen¬
Uc zum Salon — die Wiener Bürgerstube Rosners. Und
darin der gutmütige alte Philister Vater Rosner, die von
der Erinnerung an schönere Jahre überglänzte beleibte
Mutter — beide mit der neuen, freiheitlich sich gesittenden
Zeit nicht im Einklang, aber zu indolent, ihr zu wider¬
treben; neben ihnen die schöne Tochter Anna, die sich durch
Gesang= und Klavierstunden ihr Lebensbrot verdient, und
ihr streberischer, haltloser Bruder. Lebensvolle Gestalten
finden sich in unglaublicher Anzahl in diesem Buch. Und
was geschieht? so fragen wir. Nicht viel, ist die Ant¬
wört. Georg beginnt mit Anna Rosner ein Verhältnis;
da sich bald Folgen zeigen, geht er mit ihr auf Reisen; dann
mietet er ihr ein Landhäuschen bei Wien, wo sie ein totes
„Kind zur Welt bringt. Georg nimmt eine Kapellmeister¬
stelle in Deutschland an, nachdem er noch verschiedenen¬
Frauen den Hof gemacht hat, und er „verläßt“ Anna, ohne


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Tast #1.
daß es ihn glücklich oder sie unglücklich zu machen schiene.
„Von Natur aus ziemlich leichtfertig und ein bißchen
Zwei neue Wiener Romane
gewissenlos angelegt“ so wird Georg von Wergenthin am
Schluß des Buches charakterisiert. Und wir dürfen an¬
Als vor einigen Jahren das Schlagwort Heimatkunst
nehmen, daß dies des Dichters Meinung von seinem Helden
geschaffen wurde, zeigte es sich bald, daß man die Heimat
ist. Freilich, zu deutlichem Verurteilen hat er in diesem
weniger ihrer wirklichen Bedeutung wegen, nämlich weil
Roman keinen Raum. Es ist als ob der Sinn für Treue
sie eben das Geburtsland der Dichtung war, als um des
und große Liebe, für Willensgröße und starke Leidenschaft
all diesen Menschen abhanden gekommen wäre; nur Ab¬
Art von Prosa verbunden hatte. Eigentlich nur Dichtungen
glanz lebt in diesen müden Seelen. Und kein starker Ton,
vom Lande mit bestimmbarem örtlichen Kolorit wurden
keine atemlose Begebenheit, kein trotziges Ja oder Nein
unter die Heyngtkanst ausgenommen. Es mußte ein wenig
stört den geglätteten Verlauf. Aber sehen wir vom Stoff¬
Süße, ein wekiß mihr Naivität als Bewußtheit, ein starkes
lichen ab, so offenbart sich in der Kunst des individuellen
Element der Schilderung in den Werlen sein, die sich den
Charakterisierens und des rein epischen Gestaltens ohne eine
neuen Namen#verdihnen sollten. Und die Großstadt, das
Spur von Lyrismus, in dem gleichförmigen Fluß dieser
sogenannte zersetzende Leben Berlins oder Wiens, die
lichterlosen aber wohlklingenden Prosa eine echte und starke
Geistigkeit oder wie man gern sagte die Décadence mußte
Künstlernatur. Kaum ein heute lebender Dichter deutscher
draußen bleiben,
— ja, diese Elemente eben galt es ja zu
Sprache ist so sehr Meister des Stils und Meister der künst¬
„übekwinden“. Für den Vertreter einer gemilderten Dé¬
lerischen Massenverteilung, Verteilung von Dialog und
cadenee, nämlich der Wiener Form dieser Literaturgattung,
Betrachtung, Erzählung und Schilderung zu bestrickendem
galt und gilt den Deutschtümlern heute noch Arthur
Rhythmus, wie Arthur Schnitzler. Und noch eins: auf
Schnitzler. Und wirklich machte er es den national, heimat¬
keiner Seite verläßt uns das Gefühl, daß wir es mit einem
künstlerisch oder moralisch Voreingenommenen nicht leicht,
klugen, ja hochgeistigen Manne zu tun haben. Das Pro¬
ihn als den bedeutenden Dichter zu erkennen, als den wir
blem dieses Romans ist die Indenfrage, das Wort im weite¬
ihn heute bezeichnen müssen. Ein bißchen reichlich erging
sten Sinne genommen. Und wie diese schwere Frage von
er sich in galanten Abenteuern, spitzfindigen Liebeskultur¬
illen Seiten beleuchtet und ausgeführt wird, wenn der
problemen und in der Darstellung dämmeriger, ungesunder
Dichter auch nicht keck genug ist, eine Lösung des Unlös¬
Seelenzustände. Trotzdem meine ich, daß man nur seinen
baren vorzutänschen, das beherrscht das halbe Buch und er¬
glänzenden Einakter Literatur, sein schwermütiges und
zeugt ein Gefühl von der tiefen Toleranz, dem Mitleid und
schwerblütiges Drama Der einsame Weg oder die tief¬
der wehmütigen Einsicht des Verfassers, welches dem Ge¬
ergreifende Liebelei einmal gründlich kennen gelernt zu
samteindruck sehr innerlich zugute kommt.
haben brauchte, um heute nicht darüber erstannt zu sein,
daß Schnitzler einen Roman geschrieben hat, der in vieler
Wie schon der Name seiner Dichtung vermuten läßt,
Hinsicht zum Besten seiner Gattung gezählt werden darf.
greift der junge Steiermärker Bartsch ganz anders in
Ein neues Zeugnis der Décadenee! werden die Gegner
des Lebens Fülle und in seiner eigenen Seele Saiten, als
rusen, ein Heimatbuch im höheren Sinn! dürfen die sagen,
der stille Epiker Schnitzler. Sehr fröhlich setzt die Geschichte
welche auch die Großstadt und großstädtische Gesellschafts¬
ein im Hause des lebensfrohen alten Haindl, der sich ein
kreise als berechtigte Heimat poetischen Schaffens betrachten.
gut Stück Geld erworben hat und nun seinen Kindern eine
Der Stoff dieses Werkes — das Wort Stoff im brutalsten
„Heimat“, ein eigenes Stück Land und ein Häuslein gibt,
— ist die Geschichte eines
Sinne sozusagen genommen
wohin sie je und je zurückflüchten können. Während er
Jahres aus dem Leben des Freiherrn Georg v. Wergenthin.
selbst, dem die Interessen seines Gaumens, die „Ein¬
Dies Leben spielt sich ohne allzutief in die Seele Georgs
verleibungsfeste“ im Grunde das Wichtigste sind, dem alten
eingreifende Ereignisse in Wien ab, in einer Gesellschaft,
Österreich nachsinnt und in den Kronländern nach ihm
deren Kennzeichen es ist, daß sie soziale Gegensätze gewisser
sucht, wachsen seine drei Söhne und die hausbackene Tochter
Art weniger betont als das in Deutschland geschieht. Eine
zu Vertretern der neuen Zeit heran, die er selbst so wenig
bunte Menge von Gestalten tritt uns entgegen: Da ist zu¬
lieben und verstehen mag. Wir sehen den Lebehaindl
nächst Georg und sein Bruder Felician, Nachkommen eines
einen flotten leichtsinnigen Burschen, den auch im Ehehafen
alten Adelsgeschlechtes, nicht reich, aber doch genügend be¬
erst der Anker des Zipperleins festlegen kann, den politi¬
gütert, um standesgemäß zu leben; jener Komponist und
ierenden Kampfhaindl und den denkerisch veranlagten
Schöngeist, dieser Diplomat. Eine kleine Zahl sehr im
Geisthaindl. Und wir sehen sie alle erwachsen nach ihrer
Hintergrund stehender junger Adliger erinnert zuweilen
Natur, keinen sich recht erfüllen, keinen voll glücklich
an die Abstammung Georgs. Wichtiger sind die Literaten¬
werden. Am wenigsten den klugen Johannes, der zuletzt
typen, mit denen er oft zusammenkommt: Nürnberger,
in abenteuerlicher Liebe zu der seinen Regina, seines
Bermann, Winternitz. Der erste der kluge, zur Resignation
Bruders Weib entbrennt, sie entführt und verdirbt, sodaß
genügend willensstarke, der zweite der begabte, zerrissene,
er endlich in den Schoß der Kirche flüchtet vor der Unbill des
Lebens. Bartsch hat entschiedene Aussicht, von der Heimat¬
aufstrebenden Kaffeehausgeschlechtes. Weiter treten wir
kunst als würdiger Vertreter angenommen zu werden. In
ein in den Salon des alten S. Chrenthal, der sich am lieb¬
der Tat gelingen ihm eine Reihe von anziehenden Schil¬
sten Salomon nennen und im Kaftan auftreten würde, um
derungen, und das kecke Draufgängertum seiner Charak¬
die antisemitischen Geckenbestrebungen seines Sohnes Lügen
terisierungen, von liebenswürdigem Humor durchsetzt,
zu strafen. In diesem Salon glänzt eine Anzahl schöner
nimmt eine Weile lang gefangen. Allein alles in allem
Frauen, voran Else Ehrenthal, die gutmütige, aber kluge,
kann ich kein Zeichen allzu großen Könnens in diesem Buch
überkluge Tochter des alten Geldmannes. Und das „geist¬
erblicken, — sein Verfasser hat es sich offenbar etwas leichter
reiche“ Gespräch geht über platonische Liebe, über Zivnis¬
gemacht, als es seiner Begabung nach notwendig gewesen
mus, Politik und ähnliche heikle Gegenstände hinweg, elegant,
wäre. Er ist nämlich der Autor des viel bedeutenderen
Romans Zwölf aus der Steiermark. Gefühlsduselei könnte
R. H. Bartich, Die Haindlkinder. Verlag Staackmann,
5. — A. Schnitzler, Der Weg ins Freie. S. Fischer, 6 #.
man die schlimmste Seite dieses neuen Buches bezeichnen,