I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 278

23.
Der Neg
ins
Freie
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nicht nur ungebührlich breit, sondern leider auch trivigl
und seicht. Und es scheint nicht einmal die Absicht zu wirk¬
ich dichterischer, das heißt einigermaßen über Tagesgerede
und Kirchturmpolitik erhebender Gestaltung vorzuliegen,
wenn Bartsch uns Seiten lang mit sehr dünnen und
phrasenhaften Ergüssen über Sozialpolitik, soziale und
individuelle Pflichten, über italienische Kunst, Goethes
Faust usw. traktiert. Der Eindruck wird erhöht durch eine
flüchtige und lyrisch entgeistete Schreibweise, welche be¬
onders gegen den Schluß hin stark vorherrscht. Hoffen wir,
daß der Autor aus solcher Niederung wieder zu reineren
Wirkungen und würdigerem Schaffen zurückkehrt.
Ein seltsames Schicksal: der „Decadent“ der ein Kunst¬
werk, und der Heimatkünstler, der ein flüchtiges Machwerk
zutage förderte. Vielleicht werden wir beide brauchen, um
über Österreichs Dichtung künftig klar zu sehen. Vielleicht
aber, und hoffentlich nehmen wir diese Konstellation zum
und „darum nationaler ist, als irgendeine neue Großstädt es sein
Anlaß, über Décadenee einerseits und Heimatkunst, die
kann“, eine unerschöpfliche Fülle von Erscheinungen, die ästhetische
den Namen Kunst verdienen soll, anderseits ein wenig
Frende auslösen. Der Inselverlag hat das Werk vorzüglich aus¬
tiefer als bis zum nur Stofflichen der Werke nachzudenken.
gestattet und ihm eine reiche Anzahl künstlerischer Reproduktion
Dann wäre noch ein Grund mehr, den beiden Autoren zu
an Städtebildern und Meisterwerken der Museen beigefügt, die sich
den aus dem Text herauswachsenden Stimmungen vortrefflich
danken.
W. S.
anschließen.
ab.
Leo Tolstois Pädagogische Schriften. Zwei Bände (307 und 286 S.).
Eine briefliche Aeußerung A. de Mussets
Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena. Band 8 und 9 der vom
Verfasser genehmigten Gesamtausgabe von Raphael Loewenfeld.
Broshiert 8 J, gebunden 10 M.
über den Unterschied der Geschlechter
Den meisten ist Tolstoi als geistvoller Literat und selb¬
M. — Aus dem Französischen
ständiger tiefer Denker bekannt, aber nicht als Pädagog. Darum
weiß man auch kaum etwas von dem langjährigen, heißen Be¬
Ja, Frau Herzogin, Sie haben guten Grund dazu, sich
nühen des Grafen, zur Bilbung seiner Leute und seines geliebten
Glück zu wünschen, daß Sie eine Frau und kein Mann jind.
russischen Volkes beizutragen. Und doch hat schon der jugendliche
Ich stimme allem zu, was Sie über diesen Punkt zu äußern
Gutserbe darin eine seiner Hauptaufgaben als Herr von Jasnaja
belieben, auch sogar den 10 Lebensjahren, die sich nicht mit
Poljana gesehen. Er gründete eine Schule für seine Bauern, er
voller Bestimmtheit erraten lassen. Gestatten Sie mir
as unermüdlich, er suchte auf seiner großen Auslandsreise für die
jedoch eine Bemerkung: Ihnen steht es gar wohl an, so zu
ädagogik bedeutsame Personen und Stätten auf. Was er dann
an seiner eigenen Schule erlebte, wie er an aller übernommenen
reden, weil Sie eben eine Frau, eine richtige echte Frau
Bädagogik irre wurde, wie er aber unter peinlicher Selbstkontrolle
sind, weil Sie Ihr Leben und die Ihnen verliehenen Kräfte
neue Bahnen einschlug, das hat er in der Zeitschrift Jasnaja Pol¬
edel und gut anzuwenden verstanden haben; aber stimmen
ana in einzelnen Aufsätzen niedergelegt. — Nun ist es durch sorg¬
Sie mir auch zu, wenn ich behaupte, daß es wenig, sehr
ältige Übertragung ins Deutsche auch uns möglich, dies Stück
wenig Fälle solcher Tapferkeit*) gibt; und sicher besitzen
Lebensarbeit des großen Russen kennen zu lernen und seine
auch die Männer, die ein tapferes Leben zu führen ver¬
Originalität auch auf diesem Gebiete zu bewundern. Zunächst fällt
standen, Erinnerungen, die ebenso tief in der Seele
die negative Seite ins Auge. Schon in den Aufsätzen, die ein
Menschenalter hinter uns liegen, entwickelt er eine erstaunliche
wurzeln, wenn sie auch von wveniger zartem und weniger
Kritik an allen bestehenden Schuleinrichtungen Europas. Dies oder
friedlichem Charakter sind. Hurz, es scheint mir, daß nicht
das könnte, sagt man sich oft beim Lesen, in irgendeinem ganz
der Geschlechtsunterschied das Maßgebende ist, sondern viel¬
modernen Buche, etwa bei Gurlitt, stehen. Torstoi teilt mit dem
mehr der Unterschied der einzelnen Individuen. Das höchst
Modernismus der Pädagogik das vernichtende Urteil über das
prosaische, kleinliche und engherzige Leben, das mehr als
Hasten am geschichtlich Gewordenen, denn „alle von Plato bis auf
dreiviertel der gesamten Menschheit führen, im guten
Kant streben nur nach einem Ziele, der Befreiung der Schule von
Glauben, daß diese Art Lebensführung „leben“ heißt, zer¬
den historischen Banden, die auf ihr lasten“. So fällt begreiflicher¬
stört noch vollends den geringen Wert des einzelnen. Wer
weise sein Urteil über die deutschen Schulen fast durchweg un¬
Er hält es für den größten Fehler russischer
günstig aus.
diese Eiskruste zu durchbrechen wagt, verdient einen Platz
Pädagogik, deutsche Schuleinrichtungen und Unterrichtsmethoden
außer der gewöhnlichen Reihe, und im allgemeinen ist den
einfach auf sein Volk zu übertragen. Mit derselben Offenheit
Männern der große Vorteil völliger Willensfreiheit ein¬
kritisiert er das behördliche „Projekt eines allgemeinen Planes für
geräumt, der sie der Heuchelei überhebt. Wenn es wenig
die Errichtung von Volksschulen“.
Allerdings eine Seite der
Mägner gibt, die es verstehen, glücklich zu sein, so gibt
ädagogischen Kritik, die uns jetzt leider oft entgegentritt und stets
eszugleich wenig Frauen, die es wagen, glücklich zu
inangenehm berührt, man kann sie die bloß zersetzende nennen,
sein. Unter gleichen Verhältnissen, bei Liebespaaren ist
fehlt bei Tolstoi. Bei aller rückhaltlosen, ja herben Art will er
doch nur Raum schaffen für das Gute und Richtige — ob hoch¬
Kumer ein Teil der Besitzer, der andere erfreut sich nur der
modern oder uralt, darauf kommt es ihm nicht an, Tolstoi teilt ja
Rutznießung, und in diesem Punkte erkenne ich Ihre über¬
Die Grund¬
nicht die landläufige Vorstellung von „Fortschritt“
gegenheit an; wir genießen das Glück, Sie aber — besitzen
age und das einzige Kriterium aller Pädagogik ist für ihn allein
den Schlüssel dazu.
die Freiheit. So will er eine freie und deshalb gerechte, ver¬
— (Brief an die Herzegin von Castries aus dem Jahre 1840.)
nünftige Bildung gepflegt wissen und verwirft die gewaltsame
Von
und daher ungerechte und unvernünftige Erziehung.
einer auf diesen Grundsätzen aufgebauten Schultätigkeit be¬
Bücherschau
kommen wir im zweiten Band ein klares Bild; alle Außerlich¬
keiten im Schulbetrieb, jedes Fach wird genau behandelt. Das
Paris. Von Karl Scheffler. Leipzig, Inselverlag. Geheftet
sieht freilich ganz anders als in unseren Schulen aus! Leben und
0 %, Halbpergament 12 J.
Schaffensfreude ist dort reichlich zu finden — allerdings nichts von
Unter den zahlreichen neueren Werlen, die über Paris ver¬
peinlicher Ordnung, von militärischer Pünktlichkeit, von plan¬
öffentlicht worden sind, dürfte das Buch Karl Schefflers als eines
mäßigem Aufbau. Ist das schließlich bei einem solchen Denker
ner fesselndsten angesehen werden. Es spricht aus dem Verfasser
und Dichter und Volksfreund anders zu erwarten? Gewiß nicht.
eine sehr seine reise Kultur, die von der alten Kultur Frankreichs.
Aber eine direkte Nachahmung würde zum Absurden führen, ja
wie sie in der Meiropole zu ihrem umfassenösten Ausdruck gelangt,
lächerlich wirken. Was von Tolstois Dichtungen gilt, gilt auch
nächtig angezogen wurde. Diese alte Kultur in ihren nationalsten
von seiner Pädagogik: von der Oberfläche geht es in die Tiefe,
und eigenartigsten Außerungen zu erfassen, mit einem tiefen Ver¬
von der grauen Theorie ins grünende Leben; man wird gepackt,
ständuis für das, was gleichsam symbosisch hinter der Flucht der
zum Nachdenken, wenn auch oft unter Widerspruch, gezwungen und
Erscheinungen liegt, das ist Scheffler meisterlich gelungen. Wohl ist
aus der Gleichgültigkeit aufgerüttelt zu eigenem Schauen und
er sich bewußt, nur Eindrücke und Stimmungen wiederzugeben,
Schaffen.
wie sie ihm während eines kurzen Aufenthaltes in Paris ge¬
worden; er nenni sich selbst einen „sentimentalen“ Reisenden und
bereitet den Leser derauf vor, durchaus Subjektives vorgetragen
Lesefrüchte
Die Herzogin von Castries war gelähmt, was sie nicht
*)
Das Vorrecht der Natur ist die Fülle und das un¬
hinderte, an allem menschlichen Geschick seelenvoll Anteil zu
endliche Leben; das Vorrecht der Kunst ist die geistige Ein¬
nehme: Musset ging zu ihr, wenn er tröstenden Zuspruchs in
heit und das harmonische Ebenmaß.
Fr. Schlegel
trüben Augenblicken bedurfte.
Buchdruckerei der Dr. Güntz'schen Stiftung vormals E. Blochmann & Sohn in Dresden
Verlag des K. S. AdrehCkomptolre in Dreiden