I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 288

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ins Freie
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Der Pest- und Hochschul-Roman.
Er führte den Allerweltsnamen Müller. Hermann Müller.
Und war ein großer Held. (In einer kleinmütigen,
schwachnervigen Zeit.) Weihte in blühender Jugend ein von
tausend Hoffnungen strahlendes Leben dem Opfertod. Ging
für seine Wissenschaft zugrunde — am schwarzen Tod des
Mittelalters: an der Pest.
Es war im Karneval. Die weichen Wellen Straußischer
Walzer durchfluteten Wien.... Plötzlich stockte — erstarrte
die Lust. Wurden Rosen holdseliger Wangen weiß wie
Leichengesichter. Rieselte es eisig über nackte Frauen¬
schultern. Im Tanzsaal stand der Schatten und strich die
unsichtbare Geige. Zur Danse macabre. ... Die Pest in
Wien! ... Ausgebrochen war sie im Allgemeinen Kranken¬
haus. Durch das Verschulden eines betrunkenen
Laboratorium=Dieners, der mit den Reinkulturen unvor¬
sichtig hantiert hatte. Der Mann büßte es mit dem Leben.
Schon sein Schicksal spottete des Gleichmaßes von Schuld
und Vergeltung, an das die frommen Menschen der Ver¬
gangenheit glaubten, als sie Bußprozessionen veranstalteten,
Pestsäulen errichteten und bei derlei Ansammlungen einander
den Todeskeim um so freigebiger mitteilten. Und jetzt, nach
Jahrhunderten, drohte wieder dieses Fatum ohne Sinn der
Millionenstadt. Doch es wurde nach heißem Ringen erstickt,
ehe es die dunkien Flügel über das dichtbevölkerte Wien
spreizen konnte. Im Kamxf zwischen der Urvergangenheit
des Menschen und seiner fernten, gefeiten Zukunft, zwischen
dem kleinsten Einzeller und dem größten Vielzeller, errang
Einen kostspieligen Sieg:
die Wissenschaft einen Sieg...
In der Pest=Baracke, weit abgeschieden von allem, wus leben
wollte, starben der arme Diener, eine barmherzige Schwester
und Dr. Hermann Müller.
Ein Idealist der Wissenschaft, war der hochbegabte junge
Arzt im Jahre zuvor mit der österreichischen Pest=Expedition
nach Indien gezogen. Dort sah er den tausendfältigen
schwarzen Tod, dort stand er Tag und Nacht unter dem
Schwert, in der Pflicht des Dienstes, und — blieb unver¬
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Blond, schlank, ernst und verschlossen und doch kindlich war
er. Einer, dei's nicht gegeben schien, sich in den Frohsinn
der Leute zu mischen, und der doch gerne gelacht hätte.
Ich habe ihn gekannt — und fand ihn, der längst vermodert
ist, nun nach vielen Jahren wieder; mit jedem Zug seines
Wesens. Otto Schmitt heißt er in dem Wiener Roman
„Das heilige Feuer“ von Hans Hart. (Leipzig, Verlag
von L. Staackmann, 1909.)
So wäre ich denn für das Buch bestochen. Es liegt schon
Kritik in dem Eingeständnis, daß es mich mit der dichterischen
Wiederbelebung einer mir vertrauten Persönlichkeit bestechen
konnte. Der Verfasser hatte bei dem Jugendfreund Müller¬
Schmitts eine Erschwerung, nicht eine Erleichterung voraus.
Unter den Lesern wird es übrigens viele geben, die persön¬
liche Beziehungen zu den zahllosen Figuren des Romans
entdecken werden. Das Werk wurde ein Wiener Roman
genannt. Doch nur mit wesentlicher Einengung stimmt die
Bezeichnung. Die epikureische Schönheit, die Heimlichkeit,
die alte Kultur Wiens und vor allem das sentimentale und
schwelgerische Herz bekennen sich in der Dichtung. Und auch
die saloppe Art, das Zerfließende, Unstraffe der kompositori¬
chen Technik ist wienerisch. Den Unterschied von Schüler und
Meister vorausgesetzt, drängen sich Ahnlichkeiten mit Artur
Schnitzler auf: das Verweilen und wehmütige Genießen. ...
Von Schnitzlers „Weg ins Freie“ ist Harts Roman überdies
in einer seiner wesentlichsten Außerungen angeregt: auch
„Das heilige Feuer“ ist eine psychologische Studie zur Juden¬
frage. Der sogenannte „Held“ des Buches, der mit dem
Dichter die lose verbundenen Menschenkreise des Romans
burchwandert, ist nicht der sterbende Otto Schmitt; ist ein
anderer junger Pestarzt, Raphael Siezheim, der Sohn eines
Ghetto=Trödlers. Im Gegensatze zu Schnitzler, der den
Weg ins Freie nicht findet, öffnet der jugendliche Hart
— schnellfertig das Tor: Sein tapferer Jude ringt sich innerlich
###kommener Freiheit durch und erringt in leidgeprüfter
Liebe die stolze Tochter eines starrsinnigen Staatsmannes
und Aristokraten. Der Traum von einer höchsten Schönheits¬
und Geisteskultur, die aus der Mischung deutschen und
jüdischen Edelwesens stammen soll, schimmert hinter dem
persönlichen Schicksal.
Die vordringliche Wichtigkeit der Judenfrage und der
ungeheure Druck des Klerikalismus, der auch die freie
Wissenschaft und Lehre bedroht, geben dem Roman einen
politischen österreichischen Charakter. Doch nicht Österreich.
nicht Wien ist der Schauplatz. Die Wiener Universität, das
Professorentum ist's. Einen „Hochschulroman“ nennt Hart
sein Buch. Und es hat nicht unbedenkliche Ahnlichkeit mit
Gerade die Anlehnung an be¬
einem Schlüsselroman.
stimmte Personen und Vorgänge der Wirklichkeit macht es
nicht bloß den herausgeforderten Gegnern des jugendlichen
Dichters leicht, zu beweisen, daß die Fähigkeit, zu beob¬
achten, von seinem Mut und seinem feurigen Willen gar
ehr erschüttert wird. Dieser Hochschulroman ist ein Non
plus ultra der Anklage=Literatur. Das Professorenkollegium
wird als eine, von wenigen Ausnahmen veruneinigte Ver¬
brecher=Gesellschaft vorgeführt. Die romanhaften Über¬
treibungen schwächen den Kämpfer für das heilige Licht. Sein
Wissen, seine Einblicke, sein unerschrockenes Hinableuchten
in die seelischen Abgründe würden Hans Hart berufen haben,
einen Kulturroman zu schreiben. Es mangelt nur noch die
Reife, die die Vorstellungen an der Kette der Erkenntnisse
hält. In dem buntfahrigen Getriebe der Zirkel und Salons
ringsum die Universität, die Hart aufdeckt, knacken und
brechen die Rückgrate, gleißt das Strebertum, floriert der
Schacher mit geistigen und weltlichen Werten, regiert als
Göttin Minerva, die Maitresse eines Prinzen, ist der Geld¬
sack allmächtig. Das ist noch nicht das Außerste. Daß einem
hohlköpfigen Privatdozenten, der sich mit einer Millionär¬
familie versippte, der Professortitel verliehen wird, soll nicht
bloß in Wien vorgekommen sein. Bei Hart aber begehen
akademische Leuchten Morde und gemeine Diebstähle, sie
lassen sich für Reklamezwecke kaufen und fälschen Wechsel.
Weniger wäre viel mehr gewesen. Das Romanhafte dieses
Kulturromans erdrückt das Kulturelle.