23. Der Neg ins Freie
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ja nicht im Lande draußen, sondern in uns selbst.
Es kommt nur für je den darauf an, seinen inneren
Weg zu finden. Daher ist es natürlich notwendig,
möglichst klar in sich zu sehen, in seine ver¬
borgensten Winkel hineinzuleuchten. Den Mut seiner
eignen Natur zu heben. Sich nicht beirren lassen.
Ja, das müßte das tägliche Gebet jedes anständigen
Menschen sein: Unbeirrtheit!. Es ist kein neuer
Gedanke, daß die Gemeinsamkeit in seelischen
Dingen meist zu nichts führt, daß man allein seinen
Weg finden muß. Aber dies kann vielleicht nicht
oft genug gesagt werden.-Das Verstehen ist ein
Sport wie ein andrer. Ein sehr vornehmer Sport
und ein sehr kostspieliger. Man kann seine ganze
Seele darauf verschwenden und als ein armer
Teufel dastehen. Aber mit unsern Gefühlen hat
das Verstehen nicht das allergeringste zu tun
beinahe so wenig wie mit unsern Handlungen.
Es schützt uns sucht vor Leid, nicht vor Ekel,
nicht vor Vernichtung.
Das Verstehen im Gegensatz zu unsern Ge¬
fühlen! Und hier ein andres Wort über das höchste
Gefühl. die Liebe: das konnte eine Art von
Liebe sein, und was sie für Heinrich fühlte, eine
andre. Es gab wirklich viel zu wenig Worte. Für
den einen geht man in den Tod, mit dem andern
liegt man im Bett, — vielleicht noch i der Nacht,
ehe man sich für den andern ertränkt.: Dies ist
von einer Schauspielerin gesagt, von der es an
einer andern Stelle heißt: -Georg fühlte ein selt¬
sames Mitleid mit ihr, wie man es manchmal im
Traum mit Toten fühlt, die nicht wissen, daß sie
gestorben sind.:
Noch eine Stelle über den Tod möchte ich
hersetzen, welche an eine andre erinnert, die ich
neulich aus der ssilbernen Tänzerine von Otto
Gysae zitierte:
Es gibt ernstere Dinge als den Tod, traurigere
gewiß, weil eben diesen andern Dingen das End¬
gültige fehlt, das im höhern Sinn das Traurige
des Todes wieder aufhebt. Es gibt z. B. lebendige
Gespenster, die auf der Straße wandeln bei heil¬
lichtem Tag, mit längst gestorbenen und doch
sehenden Augen, Gespenster, die sich zu einen
hinsetzen und mit einer Menschenstimme reden,
die viel ferner klingt als aus einem Grab heraus.
Und man könnte sagen, daß im Augenblicke, da
man dergleichen erlebt, das Wesen des Todes
sich viel unheimlicher erschließt, als in solchen,
da man dabei steht, wie jemand in die Erde ge¬
senkt wird Zum Schluß nur noch eine
Stelle: -Ich hab mich ohne Schuld gefühlt,
irgendwo in meiner Seele. Und wo anders, tiefer
vielleicht, hab ich mich schuldig gefühlt ... und
noch tiefer, wieder schuldlos. Es kommt immer
nur darauf an, wie tief wir in uns hineinschauen.
Und wenn die Lichter in allen Stockwerken an¬
gezündet sind, sind wir doch alles auf einmal:
schuldig und unschuldig, Feiglinge und Helden,
Narren und Weise.
Ich muß es mir versagen, hier mehr über dieses
Buch und aus ihm zu schreiben. Vielleicht regen
diese wenige Zeilen manchen dazu an, sich das
unvollkommene Bild zu ergänzen und den Roman
zu lesen. Damit wäre mein Zweck erreicht und
der Leser selbst fände die schönste Befriedigung
und Belohnung.
Das andre Buch, auf das ich leider nur noch
kurz hinweisen kann — ich bitte, die Qualität
nicht nach der Länge der Besprechung zu werten
ist ein Roman von dem Verfasser des lustigen
Sofas auf Nr. 6-, Otto mar Enking, Wie Trages
seine Mutter suchte!). In diesem Buch wird die
Sehnsucht eines armen Jungen nach seiner Mutter
geschildert, die er nie gekannt hat, deren Liebe
er im kalten Leben vermißt. Der Junge reift zum
üingling und zum Manne, aber diese Sehnsucht
begleitet ihn. Das Buch hat eine seltsam weh¬
mütige Stimmung, alles Glück darin ist voll Weh¬
mut und Sehnsucht. Es sind Liebesszenen darin
von Zartheit und dabei von einer Glut, wie ich
wenige kenne. An Theodor Storm wird man
erinnert, welchem Enking eine kongeniale Natur
zu sein scheint. Dieses Buch wird mir eine Er¬
innerung bleiben, zu welcher ich immer gern zurück¬
kehren werde, ein gütiger, etwas weher Hauch
liegt darüber. Hier soll nur eine Stelle Platz
finden: . Wir alle brechen einmal im Leben
gleichsam eine Kastanie auf und stehen voll Scham
und voller Zorn über uns selbst, wenn wir doch
in ihrem Innern nichts von dem erkennen was
wir erkennen wollten. Und wir alle werfen die
zerstörte Frucht in den Nachbarhof hinüber und
trauern, indem wir bedenken, wie schön es sein
könnte, wenn der Baum gewachsen wäre und wir
schließlich geruhsam in seinem Schatten säßen.
Wie viel fröhlicher wären wir, wenn wir es über
uns gewännen, die Frucht ungestört wachsen zu
lassen, und uns damit begnügten, daß es Geheim¬
nisse gibt, an die wir nicht tasten dürfen, sofern
wir ihren Segen genießen wollen. Ja, wir wären
glücklicher. Und doch ist es unsre büchste Be¬
stimmung, die keimende Kastanie aufzubrechen.
So brechen wir die Kastanie auf, greifen zu
nach dem Leben und seinen Erfahrungen, Lehren
und Enttäuschungen, und es bleibt uns nichts
übrig, wenn wir die Jugend und die harmlose
Fröhlichkeit verloren und verlernt haben, als die
Erinnerung und die Sehnsucht, welche uns be¬
gleiten.Aber man findet niemals, was man verloren
hat und sucht, man behält die Wehmut, wenn
man dabei auch froh sein kann, und nur wie im
Traume sieht man das Vergangene von ferne
leuchten. Ein Ritornell von Theodor Storm fiel
mir ein, als ich Enkings Buch las:
Schnell welkende Winden,
Die Spur von meinen Kinderfüßen sucht ich
An eurem Zaun, doch konnt ich sie nicht finden.
ERNsr WLorzKA.
Neuerscheinungen.
Stulz, Dr. O.,Nervöse. Moderne Gesichtspunité
für die Behandlung der sogenganten
Nervosität. (Berlin, Herm. Walthez)
M. 1.20
A. Hartlebens kleines statistisches Taschenbuch
über alle Länder der Erde. XVI. Jahrg.
M. 1.50
19o9. (Wien, A. Hartleben)
Burwinkel, Dr. med. O., Die Rückenmarks¬
schwindsucht (Tabes), ihre Ursachen und
Bekämpfung. (München, Arztliche Rund¬
M. 1.20
schau)
1) Verlag Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig
roof. Preis 4 M., geb. 5 M.
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ja nicht im Lande draußen, sondern in uns selbst.
Es kommt nur für je den darauf an, seinen inneren
Weg zu finden. Daher ist es natürlich notwendig,
möglichst klar in sich zu sehen, in seine ver¬
borgensten Winkel hineinzuleuchten. Den Mut seiner
eignen Natur zu heben. Sich nicht beirren lassen.
Ja, das müßte das tägliche Gebet jedes anständigen
Menschen sein: Unbeirrtheit!. Es ist kein neuer
Gedanke, daß die Gemeinsamkeit in seelischen
Dingen meist zu nichts führt, daß man allein seinen
Weg finden muß. Aber dies kann vielleicht nicht
oft genug gesagt werden.-Das Verstehen ist ein
Sport wie ein andrer. Ein sehr vornehmer Sport
und ein sehr kostspieliger. Man kann seine ganze
Seele darauf verschwenden und als ein armer
Teufel dastehen. Aber mit unsern Gefühlen hat
das Verstehen nicht das allergeringste zu tun
beinahe so wenig wie mit unsern Handlungen.
Es schützt uns sucht vor Leid, nicht vor Ekel,
nicht vor Vernichtung.
Das Verstehen im Gegensatz zu unsern Ge¬
fühlen! Und hier ein andres Wort über das höchste
Gefühl. die Liebe: das konnte eine Art von
Liebe sein, und was sie für Heinrich fühlte, eine
andre. Es gab wirklich viel zu wenig Worte. Für
den einen geht man in den Tod, mit dem andern
liegt man im Bett, — vielleicht noch i der Nacht,
ehe man sich für den andern ertränkt.: Dies ist
von einer Schauspielerin gesagt, von der es an
einer andern Stelle heißt: -Georg fühlte ein selt¬
sames Mitleid mit ihr, wie man es manchmal im
Traum mit Toten fühlt, die nicht wissen, daß sie
gestorben sind.:
Noch eine Stelle über den Tod möchte ich
hersetzen, welche an eine andre erinnert, die ich
neulich aus der ssilbernen Tänzerine von Otto
Gysae zitierte:
Es gibt ernstere Dinge als den Tod, traurigere
gewiß, weil eben diesen andern Dingen das End¬
gültige fehlt, das im höhern Sinn das Traurige
des Todes wieder aufhebt. Es gibt z. B. lebendige
Gespenster, die auf der Straße wandeln bei heil¬
lichtem Tag, mit längst gestorbenen und doch
sehenden Augen, Gespenster, die sich zu einen
hinsetzen und mit einer Menschenstimme reden,
die viel ferner klingt als aus einem Grab heraus.
Und man könnte sagen, daß im Augenblicke, da
man dergleichen erlebt, das Wesen des Todes
sich viel unheimlicher erschließt, als in solchen,
da man dabei steht, wie jemand in die Erde ge¬
senkt wird Zum Schluß nur noch eine
Stelle: -Ich hab mich ohne Schuld gefühlt,
irgendwo in meiner Seele. Und wo anders, tiefer
vielleicht, hab ich mich schuldig gefühlt ... und
noch tiefer, wieder schuldlos. Es kommt immer
nur darauf an, wie tief wir in uns hineinschauen.
Und wenn die Lichter in allen Stockwerken an¬
gezündet sind, sind wir doch alles auf einmal:
schuldig und unschuldig, Feiglinge und Helden,
Narren und Weise.
Ich muß es mir versagen, hier mehr über dieses
Buch und aus ihm zu schreiben. Vielleicht regen
diese wenige Zeilen manchen dazu an, sich das
unvollkommene Bild zu ergänzen und den Roman
zu lesen. Damit wäre mein Zweck erreicht und
der Leser selbst fände die schönste Befriedigung
und Belohnung.
Das andre Buch, auf das ich leider nur noch
kurz hinweisen kann — ich bitte, die Qualität
nicht nach der Länge der Besprechung zu werten
ist ein Roman von dem Verfasser des lustigen
Sofas auf Nr. 6-, Otto mar Enking, Wie Trages
seine Mutter suchte!). In diesem Buch wird die
Sehnsucht eines armen Jungen nach seiner Mutter
geschildert, die er nie gekannt hat, deren Liebe
er im kalten Leben vermißt. Der Junge reift zum
üingling und zum Manne, aber diese Sehnsucht
begleitet ihn. Das Buch hat eine seltsam weh¬
mütige Stimmung, alles Glück darin ist voll Weh¬
mut und Sehnsucht. Es sind Liebesszenen darin
von Zartheit und dabei von einer Glut, wie ich
wenige kenne. An Theodor Storm wird man
erinnert, welchem Enking eine kongeniale Natur
zu sein scheint. Dieses Buch wird mir eine Er¬
innerung bleiben, zu welcher ich immer gern zurück¬
kehren werde, ein gütiger, etwas weher Hauch
liegt darüber. Hier soll nur eine Stelle Platz
finden: . Wir alle brechen einmal im Leben
gleichsam eine Kastanie auf und stehen voll Scham
und voller Zorn über uns selbst, wenn wir doch
in ihrem Innern nichts von dem erkennen was
wir erkennen wollten. Und wir alle werfen die
zerstörte Frucht in den Nachbarhof hinüber und
trauern, indem wir bedenken, wie schön es sein
könnte, wenn der Baum gewachsen wäre und wir
schließlich geruhsam in seinem Schatten säßen.
Wie viel fröhlicher wären wir, wenn wir es über
uns gewännen, die Frucht ungestört wachsen zu
lassen, und uns damit begnügten, daß es Geheim¬
nisse gibt, an die wir nicht tasten dürfen, sofern
wir ihren Segen genießen wollen. Ja, wir wären
glücklicher. Und doch ist es unsre büchste Be¬
stimmung, die keimende Kastanie aufzubrechen.
So brechen wir die Kastanie auf, greifen zu
nach dem Leben und seinen Erfahrungen, Lehren
und Enttäuschungen, und es bleibt uns nichts
übrig, wenn wir die Jugend und die harmlose
Fröhlichkeit verloren und verlernt haben, als die
Erinnerung und die Sehnsucht, welche uns be¬
gleiten.Aber man findet niemals, was man verloren
hat und sucht, man behält die Wehmut, wenn
man dabei auch froh sein kann, und nur wie im
Traume sieht man das Vergangene von ferne
leuchten. Ein Ritornell von Theodor Storm fiel
mir ein, als ich Enkings Buch las:
Schnell welkende Winden,
Die Spur von meinen Kinderfüßen sucht ich
An eurem Zaun, doch konnt ich sie nicht finden.
ERNsr WLorzKA.
Neuerscheinungen.
Stulz, Dr. O.,Nervöse. Moderne Gesichtspunité
für die Behandlung der sogenganten
Nervosität. (Berlin, Herm. Walthez)
M. 1.20
A. Hartlebens kleines statistisches Taschenbuch
über alle Länder der Erde. XVI. Jahrg.
M. 1.50
19o9. (Wien, A. Hartleben)
Burwinkel, Dr. med. O., Die Rückenmarks¬
schwindsucht (Tabes), ihre Ursachen und
Bekämpfung. (München, Arztliche Rund¬
M. 1.20
schau)
1) Verlag Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig
roof. Preis 4 M., geb. 5 M.