I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 310

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zur Gerechtigkeit des Herzens führen, aber es ist eientlich der Weg im
Unfreien, den Schnitzler virtuos gestaltet hät.
Wieviel stofflicher Reichtum in dieser Arbeit steckt, das läßt sich nur
##deuten. An der Spitze einer langen Reihe erstaunlich sicher festgehal¬
tener Charaktere steht der von Schnitzlers früheren Werken her bekannte,
wohlerzogene und wohlgepflegte soi-disant-Adlige, diesmal ein begabter
Musiker, der als Hauptträger der Handlung in einen Kreis von jüdisch¬
deutschen Schriftstellern, Literaten, Politikern, Financiers und Lebe¬
männern gestellt ist. Ein Jahr etwa umspannt der Roman, den Be¬
ginn, die Entwicklung und das Ende eines Liebesverhältnisses Georg
von Wergenthins, das weder ihm noch der jungen Mutter seines tot¬
geborenen Kindes tief genug ins Herz gegriffen hat, um dauern zu
können. Meisterlich geschildert sind die Treffpunkte der Gesellschaft:
Salon, Theater, Café, Reiseaufenthalte, Landhaus. Kein überflüssiges
Verweilen auf Außerlichkeiten, ermattet. Jeder Satz holt verborgenes
Seelenleben ans Licht. Darin scheint mir die Hauptbedeutung dieses
Buches zu liegen, wie vollkommen im Gleichgewicht seelische, erklärende
und erörternde Elemente stehen, daß Seele, Milieu und Ideen sich zu
untrennbarer Einheit verbinden, sich gegenseitig erklären und veranschau¬
lichen. Man wird keine Landschaftsstimmung finden, die nicht mit der
seelischen ihrer Betrachter zusammenklänge oder gar aus ihnen heraus,
als ihr Erlebnis, geschildert würde; keinen Gedanken, der nicht innerlichst
charakteristisch für den ihn Aussprechenden wäre; kein seelisches Er¬
lebnis, dessen Zusan menhang nicht lückenlos, wenngleich unaufdringlich
mitgegeben wäre, kein Entwicklungsmoment, das von außen mit ver¬
stimmender Absichtlichkeit herzugetragen wäre. Das sichtbare oder besser
hörbare Zeichen dieser künstlerischen Abgeschlossenheit ist die sprachliche
Schönheit des Romans. Ein weicher, in allen Variationen abgewandelter
Rhythmus gibt der Schreibweise etwas Sattes, Ruhendes. Eine nirgends
versagende Kunst, alles aus sich wirken zu lassen, ohne Betonung oder
lyrische Beihilfe, erregt uns das Gefühl, es wirklich mit dem gleichmäßig
von Stunde zu Stunde schreitenden Leben, nicht mit dem Dichter zu
tun zu haben — eine Täuschung, denn eben sein Temperament hat ja
dieses Stück Leben gefärbt, aber eine echt künstlerische Täuschung. Kein
Wort kann ohne Verlust aus den fünfhundert Seiten des Werkes ge¬
strichen werden.
Wir brauchen über der Freude am Gewordenen nicht zu vergessen,
was unter der Hand eines Stärkeren hätte werden können. Eine weniger
skeptische, eine härtere Mannesnatur hätte zur Bewältigung des gleichen
menschlichen Problems vielleicht die Hälfte des äußeren Apparates in
Bewegung gesetzt. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn vielen in der
dünnen Höhenluft dieser Dichtung der Atem ausgeht. Es ist nun einmal
nur einer verhältnismäßig geringen Zahl von Gutwilligen und mehr
künstlerisch als sympathisch Interessierten gegeben, einem partei= und
tatlosen Beobachter als Führer zu folgen. Schade, daß es so ist, denn
Schnitzler muß zugestanden werden, daß er nach der Feinheit seines
Könnens und der Schärfe seiner künstlerischen Einsicht zu den Ersten
seiner Zeit gehört.
Wir geben im folgenden außer einer Salonstudie aus dem Hause
des Finanzmannes S. Ehrenberg einige Gespräche wieder, in denen Kern¬
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