I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 313

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23. Der Nec ins Freie
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drücken. „Bin ich der erste?“ fragte er. „Noch niemand da? Weder
ein Hofrat — noch ein Graf — noch ein Dichter — noch eine dämonische
Frau?
„Nur eine, die es leider nie gewesen ist,“ erwiderte Frau Ehrenberg,
während sie ihm die Hand reichte, „und eine ... die es vielleicht einmal
werden wird.“
„Oh, ich bin überzeugt,“ sagte Nürnberger, „daß Fräulein Else auch das
treffen wird, wenn sie sich's nur ernstlich vornimmt.“ Und er strich sich
mit der linken Hand langsam über das schwarze, glatte, etwas glänzende
Haar.
Frau Ehrenberg sprach ihr Bedauern aus, daß man ihn vergeblich
auf dem Auhof erwartet hatte. Ob er wirklich den ganzen Sommer in
Wien gewesen sei?
„Warum wundern Sie sich darüber, gnädige Frau? Ob ich in einer
Gebirgslandschaft auf und ab spaziere, oder am Meeresstrand, oder in
meinen vier Wänden, das ist doch im Grunde ziemlich gleichgültig.“
„Sie müssen sich aber recht einsam gefühlt haben“, sagte Frau Ehrenberg.
„Das Alleinsein kommt einem allerdings etwas deutlicher zum Be¬
wußtsein, wenn sich niemand in der Nähe befindet, der das Bedürfnis
lieber von interessantern und hoffnungsvollern Menschen, als ich es
bin. Wie befinden sich die zahlreichen Freunde Ihres so beliebten Hauses?“
„Freunde!“ wiederholte Else, „da müßte man doch erst wissen, wen
Sie darunter verstehen.“
„Aun, alle Leute, die Ihnen aus irgendeinem Anlaß Angenehmes
sagen und denen Sie es glauben.“
Die Schlafzimmertür tat sich auf, Herr Ehrenberg erschien und begrüßte
Nürnberger.
„Hast du schon fertig gepackt?“ fragte Else.
„Fix und fertig", antwortete Ehrenberg, der einen viel zu weiten
grauen Anzug anhatte und eine große Zigarre mit den Zähnen festhielt.
Erklärend wandte er sich an Nürnberger. „Wie Sie mich da sehen,
fahr ich heute nach Korfu ... vorläufig. Die Saison fangt an, und
vor die Jours im Haus Ehrenberg is mir mieß.“
„Es verlangt ja niemand,“ erwiderte Frau Ehrenberg mild, „daß du sie
mit deiner Gegenwart beehrst.“
„Gut gibt sie das“, sagte Ehrenberg und dampfte. „Auf deine Jours
möcht ich natürlich verzichten. Aber wenn ich grad an einem Donnerstag
ruhig zu Haus nachtmahlen möcht, und es sitzt in der einen Ecke ein
Attaché, in der andern ein Husar, und dorten spielt einer seine eigenen
Kompositionen zuguten vor, und auf'm Diwan hat einer Esprit, und am
Fenster verabredet die Frau Oberberger ein Rendezvous, mit wem sich
trefft . .. so macht mich das nervös. Einmal vertragt man's, ein anderes
Mal nicht.“
„Gedenken Sie den ganzen Winter fortzubleiben?“ fragte Nürnberger.
„Es wär möglich. Ich hab nämlich die Absicht weiter zu fahren, nach
Agypten, nach Syrien, wahrscheinlich auch nach Palästina. Ja, viel¬
leicht ist es nur, weil man älter wird, vielleicht weil man so viel vom
Zionismus liest und dergleichen, aber ich kann mir nicht helfen, ich möchte
Jerusalem gesehen haben, eh ich sterbe.“
2. Julihest 609