I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 317

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Der Fer
ins
Freie
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Sie hätte ihm wieder tröstend übers Haar streichen wollen wie damals
auf dem See, als er von der Liebe zu jener andern wie zerrissen war.
Aber wenn er sich dann plötzlich zurückzog, kühl, trocken und wie aus¬
gelöscht erschien, da fühlte sie, daß sie mit ihm nie leben könnte, daß sie
ihm nach ein paar Wochen davonlaufen müßte ... mit einem spa¬
nischen Offizier oder einem Violinvirtuosen.
„Es ist gut,“ sagte sie, etwas gönnerhaft, „daß Sie mit Georg Wergen¬
thin verkehren. Er wird günstig auf Sie wirken. Er ist ruhiger als Sie.
Ich glaube ja nicht, daß er so begabt und gewiß nicht, daß er so klug ist
wie Sie
„Was wissen Sie von seiner Begabung“, unterbrach sie Heinrich bei¬
nahe grob.
Georg trat hinzu und fragte Else, ob man heute nicht das Vergnügen
haben werde ein Lied von ihr zu hören. Sie hatte keine Lust. Übrigens
studiere sie hauptsächlich Opernpartien in der letzten Zeit. Das inter¬
essiere sie mehr. Sie sei doch eigentlich keine lyrische Natur. Georg
fragte sie zum Scherz, ob sie nicht vielleicht die geheime Absicht habe
zur Bühne zu gehen.
„Mit dem bissel Stimme!“ sagte Else.
Nürnberger stand neben ihnen. „Das wäre doch kein Hindernis“, be¬
merkte er. „Ich bin sogar überzeugt, daß sich sehr bald ein moderner
Kritiker fände, der Sie gerade deswegen als bedeutende Sängerin aus¬
riefe, Fräulein Else, weil Sie keine Stimme besitzen, der aber dafür
irgendeine andere Gabe, zum Beispiel die der Charakteristik bei Ihnen
entdeckte. So wie es heutzutage namhafte Maler gibt, die keinen Farben¬
sinn haben, aber Geist; und Dichter von Ruf, denen zwar nicht das
geringste einfällt, denen es aber gelingt zu jedem Hauptwort das fal¬
scheste Epitheton zu finden.“
Else merkte, daß die Redeweise Nürnbergers Georg nervös machte und
wandte sich an diesen. „Ich wollte Ihnen ja etwas zeigen“, sagte sie
und machte ein paar Schritte zu der Notenetagere.
Georg folgte ihr.
„Hier die Sammlung alt=italienischer Volkslieder. Ich möchte, daß
Sie mir die wertvollsten bezeichnen. Ich selber verstehe doch nicht genug
davon.“
„Ich begreife gar nicht,“ sagte Georg leise, „daß Sie Menschen wie
diesen Nürnberger in Ihrer Nähe ertragen. Er verbreitet einen wahren
Dunstkreis von Mißtrauen und Abelwollen um sich.“
„Das hab ich Ihnen schon öfters gesagt, Georg, ein Menschenkenner
sind Sie nicht. Was wissen Sie denn überhaupt von ihm? Er ist anders
als Sie glauben. Fragen Sie nur einmal Ihren Freund Heinrich Ber¬
mann.“
„O ich weiß ja, daß der auch für ihn schwärmt“, erwiderte Georg.
„Ihr sprecht von Nürnberger?“ fragte Frau Ehrenberg, die eben
dazutrat.
„Der Georg kann ihn nicht leiden“, sagte Else in ihrer beiläufigen Art.
„Da tun Sie aber sehr Unrecht daran; haben Sie überhaupt je was
von ihm gelesen?“
Georg schüttelte den Kopf.
„Nicht einmal seinen Roman, der vor fünfzehn oder sechzehn Jahren
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2. Juliheft 1909