I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 320

23. Der Nec ins Freie
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je zuvor. In diese Menschen, die er zum erstenmal in der Nähe gesehen,
war die Sehnsucht nach Palästina, das wußte er nun, nicht künstlich
hineingetragen; in ihnen wirkte sie als ein echtes, nie erloschenes und
nun mit Notwendigkeit neu aufflammendes Gefühl. Daran konnte keiner
zweifeln, der, wie er, den heiligen Zorn in ihren Blicken hatte aufleuchten
sehen, als ein Redner erklärte, daß man die Hoffnung auf Palästina vor¬
läufig aufgegeben und sich mit Ansiedlungen in Afrika und Argentinien
begnügen müsse. Ja, alte Männer, nicht etwa ungebildete, nein, ge¬
lehrte, weise Männer hatte er weinen gesehen, weil sie fürchten mußten,
daß das Land ihrer Väter, das sie, auch bei Erfüllung der kühnsten
zionistischen Pläne, doch keineswegs mehr selbst hätten betreten können,
sich vielleicht auch ihren Kindern und Kindeskindern niemals erschließen
würde.
Verwundert, ja ein wenig ergriffen hatte Georg zugehört. Heinrich
aber, der während Leos Erzählung mit kurzen Schritten auf der Wiese
hin und her gegangen war, erklärte, daß ihm der Zionismus als die
schlimmste Heimsuchung erschiene, die jemals über die Juden herein¬
gebrochen war, und gerade Leos Worte hätten ihn davon tiefer überzeugt,
als irgendeine Überlegung oder Erfahrung zuvor. Nationalgefühl und
Religion, das waren seit jeher Worte, die in ihrer leichtfertigen, ja tücki¬
schen Vieldeutigkeit ihn erbitterten. Vaterland ... das war ja über¬
haupt eine Fiktion, ein Begriff der Politik, schwebend, veränderlich, nicht
zu fassen. Etwas Reales bedeutete nur die Heimat, nicht das Vaterland...
und so war Heimatsgefühl auch Heimatsrecht. Und was die Religionen
anbelange, so ließ er sich christliche und jüdische Legenden so gut ge¬
fallen, als hellenische und indische; aber jede war ihm gleich unerträg¬
lich und widerlich, wenn sie ihm ihre Dogmen aufzudrängen suchte. Und
zusammengehörig fühlte er sich mit niemandem, nein mit niemandem
auf der Welt. Mit den weinenden Juden in Basel gerade so wenig, als
mit den gröhlenden Alldeutschen im österreichischen Parlament; mit jüdi¬
schen Wucherern so wenig, als mit hochadeligen Raubrittern; mit einem
zionistischen Branntweinschänker so wenig, als mit einem christlich=sozialen
Greisler. Und am wenigsten würde ihn je das Bewußtsein gemeinsam
erlittener Verfolgung, gemeinsam lastenden Hasses mit Menschen ver¬
binden, denen er sich innerlich fern fühle. Als moralisches Prinzip und
als Wohlfahrtsaktion wollte er den Zionismus gelten lassen, wenn er sich
aufrichtig so zu erkennen gäbe; die Idee einer Errichtung des Juden¬
staates auf religiöser und nationaler Grundlage erscheine ihm wie eine
unsinnige Auflehnung gegen den Geist aller geschichtlichen Entwicklung.
„Und in der Tiefe Ihrer Seele“ rief er aus, vor Leo stehenbleibend,
„glauben auch Sie nicht daran, daß dieses Ziel je zu erreichen sein wird,
ja wünschen es nicht einmal, wenn Sie sich auch auf dem Wege hin aus
dem oder jenem Grunde behagen. Was ist Ihnen Ihr „Heimatlande
Palästina? ein geographischer Begriff. Was bedeutet ihnen yder Glaube
ihrer Väterg? eine Sammlung von Gebräuchen, die Sie längst nicht mehr
halten und von denen Ihnen die meisten gerade so lächerlich und abge¬
schmackt vorkommen, als mir.“
Sie redeten noch lang, bald heftig und beinahe feindselig, dann wieder
ruhig und in dem ehrlichen Bestreben einander zu überzeugen; fanden
sich manchmal wie erstaunt in einer gleichen Ansicht, um einander im
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