I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 321

23. Der Nec ins Freie
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nächsten Augenblick in einem neuen Widerspruch zu verlieren. Georg,
auf seinen Mantel gestreckt, hörte ihnen zu. Bald neigte sein Sinn sich
Leo zu, in dessen Worten ihm ein glühendes Mitleid für seine unglück¬
lichen Stammesgenossen zu beben schien, und der sich stolz von Menschen
abkehrte, die ihn als ihresgleichen nicht wollten gelten lassen. Bald
wieder war er innerlich Heinrich näher, der sich zornig von einem Be¬
ginnen abwandte, das, phantastisch und kurzsichtig zugleich, die Angehörigen
einer Rasse, deren Beste überall in der Kultur ihres Wohnlandes aufge¬
gangen waren, oder mindestens an ihr mitarbeiteten, von allen Enden
der Welt versammeln und in eine gemeinsame Fremde senden wollte,
nach der sie kein Heimweh rief. Und eine Ahnung stieg in Georg auf,
wie schwer gerade diesen Besten, von denen Heinrich sprach, denen, in
deren Seelen sich die Zukunft der Menschheit vorbereitete, eine Ent¬
scheidung fallen mußte; wie gerade ihnen, hin und her geworfen zwischen
der Scheu, zudringlich zu erscheinen und der Erbitterung über die Zu¬
mutung, einer frechen Überzuhl weichen zu sollen, — zwischen dem ein¬
geborenen Bewußtsein, daheim zu sein, wo sie lebten und wirkten, und
der Empörung, sich eben da verfolgt und beschimpft zu sehen; wie gerade
ihnen zwischen Trotz und Ermattung das Gefühl ihres Daseins, ihres
Wertes und ihrer Rechte sich verwirren mußte. Zum erstenmal begann
ihm die Bezeichnung Jude, die er selbst so oft leichtfertig, spöttisch und
verächtlich im Mund geführt hatte, in einer ganz neuen gleichsam düstern
Beleuchtung aufzugehen. Eine Ahnung von dieses Volkes geheimnis¬
vollem Los dämmerte in ihm auf, das sich irgendwie in jedem aussprach,
der ihm entsprossen war; nicht minder in jenen, die diesem Ursprung zu
entfliehen trachteten wie einer Schmach, einem Leid oder einem Märchen,
das sie nichts kümmerte, — als in jenen, die mit Hartnäckigkeit auf ihn
zurückwiesen, wie auf ein Schicksal, eine Ehre oder eine Tatsache der
Geschichte, die unverrückbar feststand.
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Als er ins Kaffeehaus trat, saß Heinrich in einer Fensternische, neben
ihm ein sehr junger, bartloser, grünlich blasser Mensch, den Georg schon
einige Male flüchtig gesprochen hatte, in Smoking mit Samtkragen, aber
mit einer Hemdbrust von zweifelhafter Reinheit. Als Georg herzutrat,
sah der junge Mensch eben mit glühenden Augen von einem Heftchen auf,
das er in unruhigen, nicht sehr gepflegten Händen hielt.
„O ich störe“, sagte Georg.
„Durchaus nicht“, erwiderte der junge Mann mit irrsinnigem Lachen.
„Je mehr Publikum, je lieber.“
„Herr Winternitz“, erklärte Heinrich, während er Georg die Hand reichte,
„liest mir eben einen Gedichtenzyklus vor. Wir werden's vielleicht für
diesmal unterbrechen.“
Georg, von dem enttäuschten Blick des jungen Mannes ein wenig
gerührt, behauptete, daß er mit Vergnügen zuhören möchte, wenn es
gestattet sei.
„Es dauert auch nicht mehr lange“, erklärte Winternitz dankbar. „Nur
schade, daß Sie den Anfang versäumt haben. Ich könnte ...
„Ja, ist es denn zusammenhängend?“ fragte Heinrich erstaunt.
„Wie, das haben Sie nicht bemerkt?“ rief Winternitz und lachte wieder
irrsinnig.
2. Julihest 90