I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 341

23. Der Ne
ins Freie
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Roman, der in weit höherem Maß
als viel anspruchsvollere Werke
diesen Namen verdient. Einen
Schelmenroman nennt ihn der
Dichter; und dazu berechtigt ihn
nicht nur der gute Humor, womit
er sich mit den Weltläuften stau¬
nend oder zufrieden, tadelnd oder
bedauernd auseinandersetzt, immer
gern zu einem verstehenden Lächeln
bereit, dazu berechtigt ihn vor
allem die wunderliche Begeben¬
heit, deren er sich als Stoff be¬
mächtigt hat. Das krause Leben
eines jüdischen Mädchens aus Ga¬
lizien, die als Kind ihren Eltern
entflieht, von einem prächtigen
Leutnant, den sie liebt, aufgenom¬
men und aufgezogen wird, die
nacheinander die Geliebte des Leut¬
nants, Klosterschülerin, Erzieherin,
Gesellschaftsdame und Ballkönigin
wird, um zuletzt im Hafen einer
glücklichen Ehe ihren vierten und
letzten Namen und die ersehnte
Nuhe zu finden — dies ist in
groben Umrissen der fesselnde Vor¬
gang. Reizvoll ist daran freilich
mehr das Zufällige, das ewig sich
hindernd Einschiebende, das über¬
wunden werden muß mit Schlau¬
heit, Scheinheiligkeit, Trug und
lachender Lebenslust. Vor allem
die Geldnot und die Namennot
plagen den guten Leutnant und
seine Sonja, und veranlassen sie
zu den gewagtesten Experimenten,
also daß er wie sie längst schon
mit Emphase aus der „guten Ge¬
sellschaft“ ausgestoßen wären, ver¬
stünden sie es nicht, im rechten
Augenblick immer ein Mäntelchen
der Treuherzigkeit, Wohlerzogen¬
heit, Vornehmheit oder dergleichen
anzulegen. Und als zuletzt alles
nicht mehr helfen will, da hilft
ein ehrliches Bekenntnis der klei¬
nen Lea Weinrausch, allas Sonja
Podchmielska, alias Kobierska
über alle Abgründe hinweg den
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Sprung in die lang betrogene
gute Gesellschaft vollführen. Man
wird nicht verkennen können, daß
dem Verfasser an dieser Stelle
etwa der Atem ausging und er
mit dem Geständnis ein wenig
eilig den Schluß heranzwingt.
Wäre er nicht so zurtsinnig ge¬
schrieben, er wäre das Schwächste
am Buch, da die ausbrechende
Verzweiflung des Mädchens allzu
unvorbereitet kommt. Eine weni¬
ger wichtige Schwäche scheint mir
darin zu liegen, daß Sonjas Ge¬
schichte als Nahmenerzählung ge¬
geben wird. Der Vorteil, daß
der Erzähler am Anfang launig
über Höhen und Tiefen der Ge¬
sellschaft philosophieren und da¬
mit seine Stellung zu den exorbi¬
tanten Begebnissen schon als die
eines freundlichen, romantisch an¬
gehauchten Lebenskünstlers fest¬
legen kann, wiegt die gelegent¬
lichen Störungen der Erzählung
durch die „überraschende" Ichform
und die Beziehungen zum Erzähler
nicht auf, — und wo steckt über¬
haupt der objektiv künstlerische
Grund dieser „Distanzierung“?
Doch, wie gesagt, wer sich diese
kleinen Schwankungen der künst¬
lerischen Haltung nicht verdrießen
läßt, wird in dem Büchlein nicht
nur einem anregsamen und liebens¬
würdigen Geist, heiterer, verwun¬
derlicher Gesellschaft, sondern auch
einem beachtenswerten Künstler be¬
Imm. Ernst Anders
gegnen.
„Kriminal=Preisaus¬
schreiben“
#nter der Überschrift „Verschlun¬
Agene Spuren“ veröffentlicht wohl
das verbreitetste Volksblatt, das
es in Deutschland überhaupt gibt,
Scherls „Allgemeiner Wegweiser“
ein „Kriminal=Preisausschreiben“,
das „über einen Zeitraum von
15 Wochen“ „die männlichen und
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