ins Freie
box 3/5
23. Der e
MU
Ding durch den Aufruf an ihr Volk dieses, sich und mich zu Tode er¬
mattet und ihren Fritz Brackenburg wimmernd gefragt hatte, ob er
wisse, wo ihre Heimat sei — da schien es mir unratsam, mich der
meinen länger vorzuenthalten. Angelangt, kroch ich in die belletristische
Abteilung meiner Bibliothek und holte Schnitzlers „Weg ins Freie
hervor, um den nächsten Absatz verfassen zu können.
SSchnitzlers Roman ist, unbeschadet seines künstlerischen Wertes,
ein Schlüsselroman. Wer den Kreis des Dichters auch nur flüchtig
kennt, entdeckt auf den ersten Blick zu fast jeder Figur das Modell. Zu
einer Figur hat, im Caféhaus, Herr Lantz Modell gesessen. Er wird
Winternitz genannt, ist „ein sehr junger, bartloser, grünlich blasser
Mensch, in Smoking mit Samtkragen, aber mit einer Hemdbrust von
zweifelhafter Reinheit . . . . und nicht sehr gepflegten Händen“ und
liest einen Zyklus von Liebesgedichten vor. Der letzte Vers jeder
Strophe des letzten Gedichts beginnt mit einem „Hei', und der letzte
Vers der letzten Strophe lautet: „Hei, so jag' ich durch die Welt“.
Der skeptische Zuhörer weigert sich, dieses „Hei' für ehrlich empfunden
zu halten. „Alles übrige“, spricht er zu Herrn Winternitz, „glaub ich
Ihnen. Ich glaub: Ihnen, daß Sie ein fünfzehnjähriges Mädchen
verführen, daß Sie sich benehmen wie ein ausgepichter Don Juan,
daß Sie das arme Geschöpf in der furchtbarsten Weise verderben, daß
es Sie mit einem Clown betrügt, daß Sie die Geliebte, ja, sich selber
umbringen wollen, daß Ihnen die Geschichte schließlich egal wird, daß
Sie durch die Welt reisen oder sogar jagen, meinetwegen bis Australien
ja, das alles glaub ich Ihnen. Aber daß Sie der Mensch sind,
„Hei zu rufen: das, lieber Winternitz, das ist einfach ein Schwindel.“
Winternitz verspricht, das „Gedicht zu ändern, sich überhaupt weiter
zu entwickeln und an seiner innern Reinigung zu arbeiten“, und er¬
klärt, „daß er sich irgendeinmal bis zu jener innern Freiheit durch¬
zuringen hoffe, die ihm gestatten würde, „Hei zu rufen. Vielleicht
ist Herr Lantz. selber überrascht, wie schnell er sich „entwickelt hat.
Vielleicht hat er vor seiner Eröffnungsvorstellung ein paarmal „Hei'
gerufen. Vielleicht sind heute und bis auf weiteres seine Hemdbrüste
von unzweifelhafter Reinheit und seine Hände gewaschen. Und viel¬
leicht kommi in dieser Zeit jener skeptische Zuhörer, der ja noch existiert,
aber kaum mehr ins Caféhaus geht, nach Berlin und besieht sich dieses
Deutsche Schauspielhaus. Es ist nicht sicher, daß er dann wieder mit
Herrn Lantz ein Gespräch hat. Doch hat er eins, so wird es mit den
Worten schließen: „. . . . .. ja, das alles glaub ich Ihnen. Aber daß
Sie der Mensch sind, jemals ein Theater zu leiten: das, lieber Lantz,
das ist einfach ein Schwindel.“
192
box 3/5
23. Der e
MU
Ding durch den Aufruf an ihr Volk dieses, sich und mich zu Tode er¬
mattet und ihren Fritz Brackenburg wimmernd gefragt hatte, ob er
wisse, wo ihre Heimat sei — da schien es mir unratsam, mich der
meinen länger vorzuenthalten. Angelangt, kroch ich in die belletristische
Abteilung meiner Bibliothek und holte Schnitzlers „Weg ins Freie
hervor, um den nächsten Absatz verfassen zu können.
SSchnitzlers Roman ist, unbeschadet seines künstlerischen Wertes,
ein Schlüsselroman. Wer den Kreis des Dichters auch nur flüchtig
kennt, entdeckt auf den ersten Blick zu fast jeder Figur das Modell. Zu
einer Figur hat, im Caféhaus, Herr Lantz Modell gesessen. Er wird
Winternitz genannt, ist „ein sehr junger, bartloser, grünlich blasser
Mensch, in Smoking mit Samtkragen, aber mit einer Hemdbrust von
zweifelhafter Reinheit . . . . und nicht sehr gepflegten Händen“ und
liest einen Zyklus von Liebesgedichten vor. Der letzte Vers jeder
Strophe des letzten Gedichts beginnt mit einem „Hei', und der letzte
Vers der letzten Strophe lautet: „Hei, so jag' ich durch die Welt“.
Der skeptische Zuhörer weigert sich, dieses „Hei' für ehrlich empfunden
zu halten. „Alles übrige“, spricht er zu Herrn Winternitz, „glaub ich
Ihnen. Ich glaub: Ihnen, daß Sie ein fünfzehnjähriges Mädchen
verführen, daß Sie sich benehmen wie ein ausgepichter Don Juan,
daß Sie das arme Geschöpf in der furchtbarsten Weise verderben, daß
es Sie mit einem Clown betrügt, daß Sie die Geliebte, ja, sich selber
umbringen wollen, daß Ihnen die Geschichte schließlich egal wird, daß
Sie durch die Welt reisen oder sogar jagen, meinetwegen bis Australien
ja, das alles glaub ich Ihnen. Aber daß Sie der Mensch sind,
„Hei zu rufen: das, lieber Winternitz, das ist einfach ein Schwindel.“
Winternitz verspricht, das „Gedicht zu ändern, sich überhaupt weiter
zu entwickeln und an seiner innern Reinigung zu arbeiten“, und er¬
klärt, „daß er sich irgendeinmal bis zu jener innern Freiheit durch¬
zuringen hoffe, die ihm gestatten würde, „Hei zu rufen. Vielleicht
ist Herr Lantz. selber überrascht, wie schnell er sich „entwickelt hat.
Vielleicht hat er vor seiner Eröffnungsvorstellung ein paarmal „Hei'
gerufen. Vielleicht sind heute und bis auf weiteres seine Hemdbrüste
von unzweifelhafter Reinheit und seine Hände gewaschen. Und viel¬
leicht kommi in dieser Zeit jener skeptische Zuhörer, der ja noch existiert,
aber kaum mehr ins Caféhaus geht, nach Berlin und besieht sich dieses
Deutsche Schauspielhaus. Es ist nicht sicher, daß er dann wieder mit
Herrn Lantz ein Gespräch hat. Doch hat er eins, so wird es mit den
Worten schließen: „. . . . .. ja, das alles glaub ich Ihnen. Aber daß
Sie der Mensch sind, jemals ein Theater zu leiten: das, lieber Lantz,
das ist einfach ein Schwindel.“
192