I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 371

23. Der Neg ins Freie

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trotz ihres wüsten Geschreies nicht die
Massen der österreichischen Bevölkerung
stehen, haben mit drastischer Deutlichkeit
die totale Niederlage der nur - natio¬
nalen und pseudoliberalen Politiker im
deutschen, slawischen und italienischen
Lager anläßlich der letzten Reichsrats¬
wahlen gezeigt. Es würde sich ebenso in
Ungarn bei Neuwahlen auf Basis des
allgemeinen, gleichen, direkten Wahlen
erweisen.
Alle zehn Nationen des Reiches sind
des eklen Nationalitätengezänkes müde.
Sie haben 100 Christlichsozialen und 89
Sozfaldemokraten ins österreichische Ab¬
geordnetenhaus geschickt, weil von diesen
Parteien einerseits der Mittelstand anderer¬
seits die Arbeiterschaft in erster Linie ra¬
dikale Sozialreformen erwartete. Sind
aber sowohl Christlichsoziale als auch
Sozialdemokraten nicht im Stande nationale
Ordnung zu schaffen, erweist sich auch in
diesen beiden Lagern in Zukunft wie in Ver¬
gangenheit der Chauvinismus stärker als das
Christentum und der Sozialismus, dann
müssen die Massen alle Hoffnung auf
wirtschaftliche Verbesserung ihrer Situation
auf parlamentarischem Wege ver¬
lieren.
Da aber der gegenwärtige Parlamen¬
tarismus durch diesen Prozeß nach oben
und unten haltlos geworden ist, gibt es
man muß es immer wieder sagen
nur
zwei Möglichkeiten: Entweder die Modernen
aller Völker einigen sich auf der Platt¬
form:

Verfassungsrevision im
Sinne der nationalen Autonomie
und suchen im gegenwärtigen oder in einem
zukünftigen Parlament eine diesbezügliche
Maiorität zu erringen oder sie über¬
bos 3/5
lassen einer klerikalen Majorität aus
den verschiedenen Nationen, sei es
mittels § 14 oder durch eine Kompetenz¬
erweiterung der Landtage, ein neues Ex¬
periment mit der geltenden unglückseligen
Verfassung zu machen.
Aber alch dieses letzte Experiment,
welches ja nichts anderes wäre, als eine
Verlegung der Nationalitätenkämpfe aus
dem Abgeordnetenhause, in die Landtage
wird und muß scheitern. Dann folgt natur¬
gemäß
weil kein weiterer Ausweg mehr
übrig bleibt, beschleunigt durch die ungari¬
sche Krise und die Annexion Bosniens
die Verfassungssistierung. Darf mar
die Bedürfnisse der Gesamtheit einem
morschen Parlamentarismus, darf man die
Reichs- und Volksnotwendigkeiten dem
gewissenlos egoistischen österreichischen
Parteiwesen opfern? Sollte eine endgültige
nationale Ordnung durch freie Verein¬
barung der Völker, resp. deren Vertrauens¬
männer wirklich unmöglich sein? Müssen
wir mit vollen Segeln der Reaktion zu¬
steuerr der verhüllten des § 14 oder der
unverhüllten des Absolutismus
Seien wir bewußten Juden immer ein¬
gedenk, welches unsägliche Unglück über
unser Volk mit dieser Wendung zum Aller¬
schlechtesten hereinbräche und haiten wir
uns immer vor Augen, daß die Sünden der
assimilatorischen Juden mit Schuld sind an
dieser furchtbaren Krise.
Dann werden wir nicht erlahmen, für
die Einheit aller Juden überhaupt und
für die Einheit des jüdischen Volkes
in Oesterreich, auf Grund der Völker¬
freiheit insbesonders einzutreten und
gegen jeden Chauvinismus, gegen alle
Herrschaftstendenzen in nationaler, kon¬
fessioneller und ökonomischer Hinsicht zu
wirken.
Golusblüten.
Ein Vorschlag. Wer ist der antisemitelnde
Feuilletonist der „Arbeiterzeitung“, der Ob¬
lomow d. J. zeichnet? Kein anderer als der Anar¬
chist a. D. Stephan Großmann, ein echtes Leo¬
poldstädter Kind. SchnitzLer’s Roman „Der Weg
ins Freie“, der gerade wegen seiner jüdischen Note
zigsten Todestage.“ Von Max Warwar(
neue Weg, Berlin; XXXVIII, 29).
„Briefe an die Presse.“ Von Oskar Wil
(Nord und Süd, Berlin; XXXIII, 6). Wilde pfle
auf Kritiken, die ihm ungerecht erschienen, eben
eingehende wie scharfe Entgegnungen zu schreibe
einige davon sind hier gegeben.
„Die Bedeutung unserer satirischen Witzze
schriften für das Volkstum.“ Von Aloys Wur
(Soziale Kultür; XXIX, Aprilheft).
Schener Austand!
Französischer Brief
CIber Voltaire als Schloßherrn von Ferney
4 Fernand Caussy schon viel interessantes M
erial beigebracht. In der „Revue de Pari
(15. Juli) erörtert er nunmehr seine Zerwürfn
mit den Geistlichen de: Umgegend.
letzte Roman von Arthu Schnitzler „Der W
ins Freie“ wird im gleiche# von Ern
Tonnelat ausführlich besprochen. Lange Stell
werden daraus übersetzt. Der französische Kriti
indet, daß noch niemals die Judenfrage in dich
rischer Form eine so umfassende und unparteiis
Beleuchtung erfahren habe. Schnitzlers wahren
danken glaubt er in dem Satze zu finden: „Je
Rasse ist von Natur an sich antipathisch.
D
Individuum allein ist imstande, durch seine
sönlichen Eigenschaften gelegentlich mit den an
pathischen Eigenschaften seiner Rasse zu versöhnen.
Chateaubriand Napoleon und die Bourbon
behandelt Léon Pingaud in der Nummer
4
1. August. Der große Schriftsteller hat sich geg
beide Dynastien schmählich benommen, weil sie sein
politischen Ehrgeiz nicht befriedigten, und beide hatt
die besten Gründe dazu. Als Napoleon, dem
Génie du Christianisme“ sehr zustatten gekomme
den Verfasser dem Kardinal Fesch als Sekret
für die Botschaft in Rom beigegeben, mach
Chateaubriand über den Kopf seines Vorgesetzt
hinweg eigene Politik, und noch schlimmer trieb
es als Minister des Außern unter Ludwig XVII
wo er aus eigenem Entschlusse eine Art Erpressu
bei der spanischen Regierung auszuüben suchte. Die
Monarch behielt schließlich recht mit seiner en
herzigen Bemerkung: „Man kann Künstlern gege
über nicht mißtrauisch genug sein.
Im „Mercure“ (16. Juli) macht Jean de Gor
mont einen Versuch „poetischer Physiologie“ in ein
vergleichenden Studie über die Dichterinnen Gräf
de Noailles Gérard d'Houville (Frau
Regnier=Heredia) und Lucie Delarue=Mardru
Er sucht den Gedanken durchzuführen, daß al
wahre Poesie nicht nur sinnlich, sondern sogar

schlechtlich sei. —
Das Buch von Maurice Mur
„Littérature Allemande“ (Armand Collin) wi
von Henri Albert im ganzen günstig besproche
Er tadelt bloß, daß für die neueste Zeit der Ve
fasser zuviel Namen geben wollte und daher d
wirklich hervorragenden Leute nicht genug hervo
treten.
Dem neuesten Roman von André Gid

„La Porte étroite“ (Mercure) ist die Auszeichnun
widerfahren, daß er fast gleichzeitig in Paris
Original und in Berlin (Erich Reiß) in der Übe
setzung von Felix Paul Greve erschien. Es ist ein
bemerkenswerte Studie religiöser Wahnvorstellung
unter französischen Protestanten. Nach dem Urtei
Alberts wird die deutsche Übertragung dem Origin
vollkommen gerecht.