I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 375

23. Der Nei
ins Freie
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# Der Weg ins Freie
Roman von Arthur Schnitzler
S. Fischer Verlag.
Ich will dem Schnitzlerschen Buch keine schulmeisterliche Zensur
kerteilen. Ich will nur bekennen, welchen Genuß ich ihm verdanke,
und aussagen, welche Weisheit es mir zu enthalten scheint. Es
gibt, im feinsten Sinne realistisch, das Leben wieder —
es wäre
anmaßend, zu sagen, so wie es ist — doch so wie es sich als Er¬
scheinung im Geiste eines Verstehenden spiegelt, der zugleich ein
Dichter ist. Es spricht von unabänderlichen Grausamkeiten in einem
Ton erfahrener Wehmut, aus der jeder laute Schmerzensaufschrei
ausgeschaltet ist. Ausgeschaltet aus einem Werk, in dem in Moll¬
und Durtonarten das tragische Motiv sich wiederholt: zwei Menschen
liehen sich und gehen auseinander. Sie sagen Liebe zu der ge¬
heimnisvollen Sehnsucht, sich ineinander zu verlieren, und erfahren,
daß nur die Körper Zärtlichkeiten tauschen, Seele mit Seele aber
sich nie vermählen kann.
Die gleiche trostlose Erkenntnis bewahrheitet sich in dem Los
der Paare, die sich für Lebenszeit gebunden haben. Das Licht der
Flamme, das ihnen in die Ehe hineingeleuchtet hat, ist ausgel¬
im Zwielicht wandern sie gesondert und treffen sich nur bei der
Gemeinschaft der Interessen und in der Sorge um die Kinder.
Aus dieser Traurigkeit klingt es zuweilen heiter auf wie die
verführerische Lockung eines Wiener Walzers, und sie ist in eine
heitere, mit weichen Linien aufgerissene Umwelt eingebettet. Wien,
wo es noch ganz bodenständig wirkt. Der Graben und der Stefans¬
platz, die innere Stadt mit ihren vergangenheitsgeschwärzten Häusern
und Palästen, die lieben altmodischen Zimmer, groß und hell, mit
Uirväterhausrat ausgestattet; die Kirchen und die öffentlichen Gärten,
und die herrliche Umgebung, die Voralpen mit ihren Dörfern und
sommerlichen Villen, der Wiener Wald, dem Häusermeer eng
angeschmiegt, ein Schönheitstempel auf der Schwelle einer
Großstadt.
Man muß vielleicht das Schicksal haben „d’être un autrichien
doublé d'un israélite“ (Österreicher und Jude zu sein) um sich in
die Stimmungen der Dichtung restlos einzufühlen. In die konfessionellen
Halb= und Untertöne, in den Ton des Literaturcafés, in die Gewohnheiten
der Coterien, die, bei winterlichen „jours“, in Sommerfrischen, an
heimischen Gebirgsseen, streug gegen fremde Elemente abgeschlossen, zu¬
einander halten. In dem charme der Menschen (Reiz ist ein viel zu deutsches
Wort für die Mischung von Anmut, müdegewordener Kultur, Balkan¬
arbarei, Güte, Scharfe und salopper Skepsis). Der Frauen,
der Natur noch weniger entfremdet sind, als ihre Schwestern
im
Norden, die, im Begriff sich zu Fach= und Berufsmenschen
zu
wandeln, Leidenschaft und selbstvergessene Sinnlichkeit den kleinen
Ladenmädchen überlassen. Der Männer, die durch die Welt wie
durch einen Harem schreiten (die Christen, vielleicht durch Türken¬
erbteil gleichfalls ein wenig Orientalen), denen das weibliche Ge¬
schlecht im allgemeinen so viel mehr gilt als das Individuum: die
Frau. Und man versteht die aristokratischen Allüren der jungen
Juden, die gewürdigt werden, Komtessen Tänze und Theaterstücke
einzupanken und mit deklassierten Prinzen zu verkehren. So in¬
brünstig ist der Fleiß gewisser Wiener Kreise, die Manieren eines
Fürsten, einer Gräfin nachznahmen, daß für die Augen eines aus¬
ländischen Oberkellners die Täuschung zuweilen tatsächlich gelingt.
Es wird Schnitzler vorgeworfen, sein Roman sei ohne Einheit,
zwei Probleme liefen darin unvermittelt parallel. Mir erscheinen
sie miteinander eng verflochten. Die Juden und die Frauen, seit
Jahrtausenden die Unterdrückten und auf Schleichwegen die Sieger, ab¬
gelehnt, betrogen, heimlich aufgesucht und mächtig, beide streben sie
in Schnitzlers Buch aus ihrer Enge. Unter den Juden ist nicht
einer, der noch von dem Stolz erfüllt ist, zu Jehovas Auserwählten
zu gehören (selbst der alte Zionistenschwärmer trägt sein Mauschel¬
deutsch mehr wie eine Waffe, als wie einen Orden). Und die
jungen Mädchen erörtern sexuelle Dinge, treten ins öffentliche Leben
und verleugnen die Empfindung, die bisher ihr Fluch und ihre
Seligkeit gewesen ist — das Auf= und Untergehen in der Liebe,
die bedingungslose Treue. Zwei unbescholtene, charaktervolle junge
Damen, die eine mit der Mutterhoffnung unter ihrem Herzen, be¬
gegnen einander auf ihrer ungesetzmäßigen Hochzeitsreise, und jede
fühlt sich von einem erotischen Gelüst gestreift, für den Partner
ihrer Freundin. Eine dritte, die ihrer Leidenschaft zum Opfer fällt,
hat vermutlich noch an ihrem Sterbemorgen einen Zufallsliebhaber
beglückt. Die Juden und die Frauen — sie zeigen beide sich in
einer neuen Pbase, beide auf der Suche nach dem Weg ins Freie.
Und wenn sie ihn bis zum Ziel gegangen sind? Wenn der
Jude sich ununterscheidbar der Christenheit verschmilzt, schwindet
ich zitiere Thomas Mann) „eine der außerordentlichsten Daseins¬
formen, die sich in einem erhabenen oder anrüchigen Sinn von der
jemeinen Form auszeichnet.? Und wenn die Frau die Torheit
hrer Treue preisgibt, den Wahn der monogamen Keuschheit, löscht
sie etwas Leuchtendes im Menschheitsdasein, verarmt sie es um die
künstlerische Kraft, die herbe Ichheit, die jedes Einzige vom Viel¬
zuvielen unterscheidet.
Noch einer sucht den Weg ins Freie. Der junge Komponist,
des Dichters Held und sein geheimer Liebling, der so einfach
christlich wirken soll und der (und das scheint mir des Werkes
Schwäche) eine so komplizierte Judenpsyche hat. Zwischen Menschen¬
ehnsucht und Menschenüberdruß wird er hin und her getrieben
Mit einem Seufzer der Befreiung scheidet er, nach jedem längeren
Beisammensein, von seinen Freunden, nach jeder Liebesnacht von
der Geliebten. Das Kind, das sie erwartet, ist ihm teuer, weil es
ein Teil von ihm ist, ein Glied der Kette, die seine Urahnen
an
seine Enkel schließt. Doch da das Schicksal diesen Keim vernichtet,
schreckt er davor zurück, ein neues Leben aufzuwecken. Wozu auch
da selbst die Blutsgemeinschaft den Abgrund zwischen Mensch und
Mensch nicht überbrückt, da auch zwischen ihnen das Tiefgründigste
und Letzte unaussprechbar bleibt.
Jeder Verantwortung und jeder Last entbürdet, steigt er zu
dem Gipfel, von dem es kein Zurück mehr gibt, auf dem vielleicht
die großen Werke und die erhabenen Gedanken reifen, doch die
Blume Menschlichkeit und Rücksicht nicht gedeiht. Aus dem ge¬
schützten Tal der Illusionen geht er in die rauhe Höhenluft der
Klarheit, aus warmer Menschennähe in das Gletschereis der Ver¬