23.
Der Neg ins
Freie
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Nr. 148
Beilage der Münchner
aller Achtung vor seinen fleißig durchdachten Kompo¬
sitionen habe ich mich auch hier nicht mit ihm befreun¬
den können. Weit mehr sagte er mir in den Fresken
zu, womit er Wände und Decke der Sala d'Udienza
im benachbarten Collegio del Cambio geschmückt. Um
die Wende des 15. Jahrhunderts entstanden, zeigen ihre
dekorativen, ornamentalen Teile eine starke Abhängig¬
keit von Signorellis Schöpfungen in Orvieto. Allein
gerade sie sind so liebreizend, die Anpassung aller
Malereien an die architektonische Raumgliederung ist
so trefflich, daß man selbst die so überoft gesehenen
Stellungen der handelnden Personen und ihre ewig
gleich verzückte Sanftmut mit in Kauf nimmt.
Eng sind fast alle Straßen und steil. Aber die
Durchblicke zwischen den hohen, häufig durch Bogen
verbundenen Häusern, die unerwarteten malerischen
Ansichten selbst der unscheinbarsten Gassen infolge der
häufigen Flächendrehungen der Gebäude entschädigen
reichlich für die Mühe. Ueber alle Stadtteile sind die
Kunstschätze Perugias verstreut. S. Angelo liegt nahe
der gleichnamigen Pforte auf dem nördlichen Neben¬
hügel, ein uralter Zentralbau, dessen Kuppel von
echzehn antiken Säulen gestützt wird. Hart am Abfall
des südlichen Hügels ist S. Pietro errichtet. Von ar¬
kadenumsäumtem Hofe aus betritt man die Kirche
durch ein schönes vornehmes Frührenaissanceportal.
Gotteshäuser Perugias. Antike Säulen, fast alle
jonisch, durch Rundbogen verbunden, stützen die fen¬
sterlosen, mit Riesengemälden geschmückten Mittel¬
chiffmauern. Der Chor hinter dem breiten, hellen
Querschiff schließt polygon. Viel Bilder, doch keines
von künstlerischer Bedeutung, sind an den Seiten¬
altären und in der Sarristei untergebracht. Ein Mar¬
moraltar Minos da Fiesole fällt durch unerfreuliche
Häufung von Vergoldung auf. Von einwandfreier,
edler Schönheit aber ist das Chorstuhlwerk, eine Ar¬
beit Stefanos da Bergamo aus der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts. Auf dem Rückweg in die Stadt ge¬
nießt man lange den Anblick der monumentalen Porta
S. Pietro, eines trefflichen Werkes der alle künstle¬
rischen Mittel so souverän beherrschenden Renaissance.
Wenige Worte müssen für die weiteren Kirchen¬
bauten genügen. San Domenico, eine gotische Anlage,
ist durch Madernas Umbau recht nüchtern geworden.
Sant' Ercolano, ein hochgeführtes Achteck, mit dop¬
pelter Freitreppe ist äußerlich eines der anziehendsten,
durch seine Lage am Fuße der Festungsmauer und an
der Kreuzung mehrerer auf= und abwärts führender
Straßen gewiß das malerischste der Gotteshäuser. —
Durch schlichte Vornehmheit zeichnet sich Madonna
della Luce aus: Rechteckig umrahmtes Portal mit
flachem Tympanon, darüber mächtiges Rundfenster mit
assetierten Gewänden; korinthische Pilaster an den
Ecken der Fassade, kraftvoller Dreiecksgiebel. Neben
ihr gönnt ein hohes Spitzbogenportal den Ausblick
über Gärten, Tal und Berge. — Recht ein Gegenstück
zu dieser reifen Schöpfung bildet die zierliche, aber doch
etwas überladene Fassade des Oratorio di S. Bernar¬
dino von dem Florentiner Agostino d'Antonio di
Duccio. Höchst auffällig erinnert ihr Aufbau an Flo¬
rentiner Grabmonumente. Die einzelnen, flach gehal¬
Seite 657
Neuesten Nachrichten
tenen Reliefs freilich und die Ornamente werden jeden
entzücken. Die Bemalung mehrerer Flächen mit Rot
oder Blau zerstört durch ihre Härte leider viel von dem
anmutigen Eindruck.
San Severo ist als Bau ohne Bedeutung. Da aber
in seiner Kapelle der jugendliche Raffael sich zum
ersten Male in der Freskotechnik versucht hat, wird nie¬
mand daran vorbeigehen. Indessen empfängt das
Wandgemälde seinen Wert mehr durch die späteren
Leistungen Raffaels als durch sich selbst. Es verrät
ungewöhnlichen Schönheitssinn und viel reines Emp¬
finden, aber noch nicht das überragende Genie.
Schreitet man hinter dem Dom durch enge Gasse
tiefer, so gelangt man bald an einen tunnelartigen
Torgang unter massiver Mauer. Jenseit auf kleinem
Platze steht ein verschwenderisch reiches Spätbarock¬
chloß, der Palazzo Antinori. Nicht er ist das Ziel,
ondern die Außenseite des Arco di Augusto, durch des¬
en Massiv man soeben gewandert. Er ist gleich der
Porta Marzia (nahe bei S. Ercolano) ein etruskisches
Tor: Eine hohe Oeffnung mit Halbkreisabschluß; dar¬
über ein breites Band von stämmigen Pilastern zwi¬
chen Rundscheiben; xechts und links weit vortretend
tark sich verjüngendé, fensterlose, quadratische Türme.
Finster, beklemmend wäre der Eindruck, trüge nicht das
eine der wehrhäften Bollwerke die reizendste, luftigste
Renaissancelshgia: Was jenes goldene Zeitalter der
Kunst berührtef ward Schönheit, wie in Midas' Hand
jedwedesDina'in Gold sich wandelte!
Nitromane.!)
DyFritz Böckel (Jena).
Unter dem 18, Februar 1831 nolierie der getreue
Eckermann Aeußerungen Goethes über seine Arbeit am
zweiten Teile des „Faust“ (Diederichs=Ausgabe Bd. 2
S. 83 f.). Der vierte Akt, teilt Goethe mit, „Lekommt
wieder einen eigenen Charakter, so daß er, wie eine
für sich bestehende kleine Welt, das Uebrige nicht be¬
rührt und nur durch einen leisen Bezug zu dem Vor¬
hergehenden und Folgenden sich dem Ganzen an¬
chließt.“ Eckermann erwidert, daß der Akt danach
vollig im Charakter des Uebrigen bleiben werde, der
„für sich bestehenden kleinen Weltenkreise, die, in sich
abgeschlossen, wohl aufeinander wirken, aber doch ein¬
ander wenig angehen. Dem Dichter liegt daran, eine
mannigfaltige Welt auszusprechen, und er benutzt die
Fabel eines berühmten Helden bloß als eine Art von
durchgehender Schnur, um darauf aneinander zu
reihen, was er Lust hat. Es ist mit der „Odyssee und
dem „Gil=Blas auch nicht anders.“ — „Sie haben voll¬
kommen recht,“ antwortete Goethe, „auch kommt es bei
einer solchen Komposition bloß darauf an, daß die ein¬
zelnen Massen bedeutend und klar seien, während es
als ein Ganzes immer inkommensurabel bleibt, aber
eben deswegen gleich einem unaufgelösten Problem die
Menschen zu wiederholter Betrachtung immer wieder
An keinem Werke hätte Goethe diese These besser er¬
1) Im besonderen Hinblick auf die soeben erschienenen unten an¬
geführten Neuausgaben des „Don Quixote“, „Gil Blas“
und „Simplicissimus“ im Insel=Verlag.
Der Neg ins
Freie
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Beilage der Münchner
aller Achtung vor seinen fleißig durchdachten Kompo¬
sitionen habe ich mich auch hier nicht mit ihm befreun¬
den können. Weit mehr sagte er mir in den Fresken
zu, womit er Wände und Decke der Sala d'Udienza
im benachbarten Collegio del Cambio geschmückt. Um
die Wende des 15. Jahrhunderts entstanden, zeigen ihre
dekorativen, ornamentalen Teile eine starke Abhängig¬
keit von Signorellis Schöpfungen in Orvieto. Allein
gerade sie sind so liebreizend, die Anpassung aller
Malereien an die architektonische Raumgliederung ist
so trefflich, daß man selbst die so überoft gesehenen
Stellungen der handelnden Personen und ihre ewig
gleich verzückte Sanftmut mit in Kauf nimmt.
Eng sind fast alle Straßen und steil. Aber die
Durchblicke zwischen den hohen, häufig durch Bogen
verbundenen Häusern, die unerwarteten malerischen
Ansichten selbst der unscheinbarsten Gassen infolge der
häufigen Flächendrehungen der Gebäude entschädigen
reichlich für die Mühe. Ueber alle Stadtteile sind die
Kunstschätze Perugias verstreut. S. Angelo liegt nahe
der gleichnamigen Pforte auf dem nördlichen Neben¬
hügel, ein uralter Zentralbau, dessen Kuppel von
echzehn antiken Säulen gestützt wird. Hart am Abfall
des südlichen Hügels ist S. Pietro errichtet. Von ar¬
kadenumsäumtem Hofe aus betritt man die Kirche
durch ein schönes vornehmes Frührenaissanceportal.
Gotteshäuser Perugias. Antike Säulen, fast alle
jonisch, durch Rundbogen verbunden, stützen die fen¬
sterlosen, mit Riesengemälden geschmückten Mittel¬
chiffmauern. Der Chor hinter dem breiten, hellen
Querschiff schließt polygon. Viel Bilder, doch keines
von künstlerischer Bedeutung, sind an den Seiten¬
altären und in der Sarristei untergebracht. Ein Mar¬
moraltar Minos da Fiesole fällt durch unerfreuliche
Häufung von Vergoldung auf. Von einwandfreier,
edler Schönheit aber ist das Chorstuhlwerk, eine Ar¬
beit Stefanos da Bergamo aus der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts. Auf dem Rückweg in die Stadt ge¬
nießt man lange den Anblick der monumentalen Porta
S. Pietro, eines trefflichen Werkes der alle künstle¬
rischen Mittel so souverän beherrschenden Renaissance.
Wenige Worte müssen für die weiteren Kirchen¬
bauten genügen. San Domenico, eine gotische Anlage,
ist durch Madernas Umbau recht nüchtern geworden.
Sant' Ercolano, ein hochgeführtes Achteck, mit dop¬
pelter Freitreppe ist äußerlich eines der anziehendsten,
durch seine Lage am Fuße der Festungsmauer und an
der Kreuzung mehrerer auf= und abwärts führender
Straßen gewiß das malerischste der Gotteshäuser. —
Durch schlichte Vornehmheit zeichnet sich Madonna
della Luce aus: Rechteckig umrahmtes Portal mit
flachem Tympanon, darüber mächtiges Rundfenster mit
assetierten Gewänden; korinthische Pilaster an den
Ecken der Fassade, kraftvoller Dreiecksgiebel. Neben
ihr gönnt ein hohes Spitzbogenportal den Ausblick
über Gärten, Tal und Berge. — Recht ein Gegenstück
zu dieser reifen Schöpfung bildet die zierliche, aber doch
etwas überladene Fassade des Oratorio di S. Bernar¬
dino von dem Florentiner Agostino d'Antonio di
Duccio. Höchst auffällig erinnert ihr Aufbau an Flo¬
rentiner Grabmonumente. Die einzelnen, flach gehal¬
Seite 657
Neuesten Nachrichten
tenen Reliefs freilich und die Ornamente werden jeden
entzücken. Die Bemalung mehrerer Flächen mit Rot
oder Blau zerstört durch ihre Härte leider viel von dem
anmutigen Eindruck.
San Severo ist als Bau ohne Bedeutung. Da aber
in seiner Kapelle der jugendliche Raffael sich zum
ersten Male in der Freskotechnik versucht hat, wird nie¬
mand daran vorbeigehen. Indessen empfängt das
Wandgemälde seinen Wert mehr durch die späteren
Leistungen Raffaels als durch sich selbst. Es verrät
ungewöhnlichen Schönheitssinn und viel reines Emp¬
finden, aber noch nicht das überragende Genie.
Schreitet man hinter dem Dom durch enge Gasse
tiefer, so gelangt man bald an einen tunnelartigen
Torgang unter massiver Mauer. Jenseit auf kleinem
Platze steht ein verschwenderisch reiches Spätbarock¬
chloß, der Palazzo Antinori. Nicht er ist das Ziel,
ondern die Außenseite des Arco di Augusto, durch des¬
en Massiv man soeben gewandert. Er ist gleich der
Porta Marzia (nahe bei S. Ercolano) ein etruskisches
Tor: Eine hohe Oeffnung mit Halbkreisabschluß; dar¬
über ein breites Band von stämmigen Pilastern zwi¬
chen Rundscheiben; xechts und links weit vortretend
tark sich verjüngendé, fensterlose, quadratische Türme.
Finster, beklemmend wäre der Eindruck, trüge nicht das
eine der wehrhäften Bollwerke die reizendste, luftigste
Renaissancelshgia: Was jenes goldene Zeitalter der
Kunst berührtef ward Schönheit, wie in Midas' Hand
jedwedesDina'in Gold sich wandelte!
Nitromane.!)
DyFritz Böckel (Jena).
Unter dem 18, Februar 1831 nolierie der getreue
Eckermann Aeußerungen Goethes über seine Arbeit am
zweiten Teile des „Faust“ (Diederichs=Ausgabe Bd. 2
S. 83 f.). Der vierte Akt, teilt Goethe mit, „Lekommt
wieder einen eigenen Charakter, so daß er, wie eine
für sich bestehende kleine Welt, das Uebrige nicht be¬
rührt und nur durch einen leisen Bezug zu dem Vor¬
hergehenden und Folgenden sich dem Ganzen an¬
chließt.“ Eckermann erwidert, daß der Akt danach
vollig im Charakter des Uebrigen bleiben werde, der
„für sich bestehenden kleinen Weltenkreise, die, in sich
abgeschlossen, wohl aufeinander wirken, aber doch ein¬
ander wenig angehen. Dem Dichter liegt daran, eine
mannigfaltige Welt auszusprechen, und er benutzt die
Fabel eines berühmten Helden bloß als eine Art von
durchgehender Schnur, um darauf aneinander zu
reihen, was er Lust hat. Es ist mit der „Odyssee und
dem „Gil=Blas auch nicht anders.“ — „Sie haben voll¬
kommen recht,“ antwortete Goethe, „auch kommt es bei
einer solchen Komposition bloß darauf an, daß die ein¬
zelnen Massen bedeutend und klar seien, während es
als ein Ganzes immer inkommensurabel bleibt, aber
eben deswegen gleich einem unaufgelösten Problem die
Menschen zu wiederholter Betrachtung immer wieder
An keinem Werke hätte Goethe diese These besser er¬
1) Im besonderen Hinblick auf die soeben erschienenen unten an¬
geführten Neuausgaben des „Don Quixote“, „Gil Blas“
und „Simplicissimus“ im Insel=Verlag.