I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 378

23.
Der Meg ins Freie
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Seite 658
#eitage der Münchner Neuesten Nachrichten
Nr. 148
weisen können als an „Wilhelm Meisters
färbung das Grundwesen der Deutschen zur Anschau¬
Lehrjahren“. Die „Wanderjahre“ schei¬
ung zu bringen suchen.
den als eine gar zu willkürliche Zusammenhäufung
Der Zeit gemäß ist im „Parzival“ der Held ein
heterogener Elemente aus; nichts beleuchtet die greisen¬
Ritter, im „Simplicissimus“ ein abenteuernder Sol¬
hafte Nachlässigkeit Goethes in der Kompositio, dieses
dat. „In beiden epischen Erzählungen rundet sich das
Werkes so hell wie die Tatsache, daß er durch Ecker¬
Einzelbild zum Weltbild, so daß es als eine Abrech¬
mann aus zwei starken Stößen handschriftlicher Be¬
nung mit den Fragen erscheint, welche die Zeit am tief¬
merkungen dem zweiten Bande als „Betrachtungen im
sten bewegen. Die Lebenserfahrung des einzelnen wird
Sinne der Wanderer“, und dem dritten Bande als
zur allgemein menschlichen Lebensweisheit erhöht.“
„Aus Makariens Archiv“ Aphorismen beifügen ließ,
Ueber diese Bedeutung für die Geschichte der geisti¬
weil er ——
den Umfang des Manuskriptes falsch ab¬
gen Entwicklung und der Gesittung geht für uns beim
geschätzt hatte; beim Druck zeigte sich nämlich, daß der
„Simplicissimus“ noch hinaus sein rein geschichtlicher
zweite Band zu klein auszufallen drohte (Creize¬
Wert. Von all den wissenschaftlichen Werken und an¬
nach in der Einleitung zu den „Wanderjahren“ in
dern Darstellungen der Zeiten des Dreißigjährigen
der Jubiläumsausgabe Bd. 19 S. XIX f.). Die
Krieges ist es keinem auch nur entfernt so wie diesem
„Lehrjahre“, die Goethe bekanntlich neben dem
Roman gelungen, die weitesten Kreise das greuelreiche
„Faust“, lange Zeit sogar vor dem „Faust“ als sein
Menschenalter, das Deutschlands Kultur um zwei
dichterisches Hauptwerk ansah, gehören zwar auch nach
Jahrhunderte gegenüber unsern Nachbarn Frankreich
den eigenen Worten des Dichters „zu den inkalkulabel¬
und England zuruckgeworfen hat, nacherleben zu lassen.
sten Produktionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel
Ergreifender — sagt Hermann Hettner in seiner
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fehn; sie dürfen aber doch als ein Roman bezeichnet
Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahr¬
werden. Ihre hervorragende Stellung in den weiten
hundert (1. Buch: Vom westfälischen Frieden bis zur
Gefilden der deutschen Literatur beruht darauf, daß sie
Thronbesteigung Friedrichs des Großen, 1648—1740
mehr als die „Wahlverwandtschaften“ mehr noch sogar
ist nie die bunte Abenteuerlichkeit der Söldnerban¬
als „Werther“ ein historischer Roman sind. Goethe
den, die Verwilderung, die wüste Sittenfäulnis, die
wollte von der Welt, wie er sie in jenen Jahren vor
Lebensöde und die Not und der Schrecken jenes entsetz¬
und hinter sich liegen sah, ein umfassendes, getreues
lichen Krieges geschildert worden, ergreifender nie der
Spiegelbild geben. In diesem Sinne hatte er schon
tiefe Herzensgram und das rührende Sehnen nach
am 2. Oktober 1786 aus Italien geschrieben: „Ich
friedvoller Weltabgeschiedenheit, das sich damals aller
habe Gelegenheit gehabt, über mich selbst und andere,
Besten bemächtigt hatte. Es scheint ein Genrebild zu
über Welt und Geschichte viel nachzudenken, wovon ich
ein und es ist ein geschichtlicher Roman im großen
manches Gute, wenngleich nicht Neue, auf meine Art
historischen Stil. Freilich sind auch hier überall die
mitteilen werde. Zuletzt wird alles in Wilhelm gefaßt
schmerzlichen Spuren jener rohen Verbauerung, an
und geschlossen.“
welcher ganz Deutschland am Ende des Krieges krankte;
mit sichtlichem Behagen verweilt die Schilderung ost
In „Wilhelm Meister“ verband sich — sagt Alfred
und gern im niedrigsten Schmutz unerhörter Zoten
Biese in dem soeben erschienenen zweiten Bande
und Flegeleien; es fehlt aller und jeder Sinn für
seiner von neuem aufs wärmste zu empfehlenden, übri¬
Maß und Schönheit. Aber der innerste Kern ist ge¬
gens auch erstaunlich billigen „Deutschen Lite¬
und. Es zeigt sich das volle Gefühl und die glück¬
raturgeschichte“*) (S. 93) — der alte Aben¬
lichste Kraft für Lebendigkeit und Naturwahrheit der
teurerroman mit dem modernen Erziehungsroman,
Charaktergestaltung, für gründliche und überzeugende
und das Werk überflügelte doch die größten Leistungen
Motivierung der Uebergänge und Steigerungen ...
auf beiden Gebieten, weil alles verinnerlicht ist und
Oft sogar überkommt uns der Hauch der echtesten und
weil der Dichter auf der Grundlage reicher, persön¬
unverlierbarsten Poesie ... Die Sprache ist rein,
licher Erlebnisse und Erfahrungen die Erziehung eines
fließend, echt volkstümlich. Wir stehen nicht an, den
Mannes zu freiem, echtem Menschentum nicht lehrt,
„Simplicissimus“ trotz all seiner Roheit und Form¬
ondern gestaltet. Die „Lehrjahre“ gehören in die Ent¬
losigkeit unter die schätzbarsten Besitztümer unserer Li¬
wicklungsreihe, die von Wolfram v. Eschenbachs
teratur zu zählen. An Kunst bleibt er hinter den spa¬
„Parzival“s)
über Hans Jakob Christoffel
nischen Schelmenromanen und dem späteren Gil Blas
v. Grimmelshausens „Abenteuerlichen
zurück; an Ernst und Tiefe der Gesinnung, an Gro߬
Simplicius Simplicissimus““) nach Biese
artigkeit der geschichtlichen Verhältnisse überragt er sie
bis zu Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“
himmelhoch.“
führt, in jene Kette epischer biographischer Darstellun¬
Wie der „Simplicissimus“, der, nebenbei bemerkt,
gen, die in typischen Einzelgestalten je nach der Zeit¬
auch die älteste deutsche Robinsonade ist (die erste Aus¬
gabe erschien 1669, des Engländers Daniel Defoe
2) Alfred Biese,
Deutsche Literaturgeschichte. 1. Band:
Von den Anfängen bis Herder. 640 S. 1. bis 8. Tausend; 2. Band:
epochemachender „Robinson Crusoe“ aber erst
Von Goethe bis Mörike, 694 S., 1. bis 8. Tausend. München 1909,
1719), in Deutschland eine Reaktion gegen das krank¬
C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. Jeder Band geb. 5,50 M.
Dabei sei hier die Neudichtung des „Parzifal“ von
haft aufgeputzte, steife Wesen der zeitgenössischen Hel¬
Wilhelm Hertz wiederum empfohlen.
den= und Liebesromane darstellte, so waren auch seine
H. J. Chr. v. Grimmelshausen, Abenteuerlicher
Simplicissimus. Taschenausgabe in drei Bänden, besorgt von
literarhistorischen Vorgänger und Vorbilder, die spa¬
Reinhard Buchwald. Mit Wiedergabe der vier Radierungen von
nischen Abenteurer= und Schelmenromane, als natur¬
Max Klinger in Lichtdruck. Leipzig, Insel=Verlag. In
Pappbänden 8 K. In Pergament 14 K.
wüchsige Volksromane in bewußten Gegensatz zu der