23. Der Nec ins Freie
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Nr. 148
Beilage der Münchner Neuesten Nachrichten
Seite 659
Unnatur des Kunstromans getreten, der zuerst Ritter¬
lana“, schließt er sich in Formen und Farben so eng
roman, dann Schäferroman und höfisch galanter Ge¬
an die neue spanische Schelmendichtung an, daß er ihn
chichtsroman war.
n Spanien spielen läßt. In Wahrheit aber ist der
Diese neue spanische Literatur hatte 1553 mit dem
Roman, dessen erste Bande 1715 erschienen, gleich Le¬
berühmten Schelmenroman des spanischen Staats¬
ages erstem Roman „Le Diable boiteux“ (1707)
mannes, Dichters und Geschichtsschreibers Don Diego
durch und durch französisch. Er wurzelt in dem
Hurtado de Mendoza „Lazarillo de Tormes“ eingesetzt.
Frankreich der letzten Jahre Ludwigs XIV. und
Die Krone ihrer realistischen Figuren — Julian
machte Lesage, wie Hettner bemerkt, nach dem Inhalt
Schmidt zieht treffend eine Parallele zu Murillos
zum ersten oppositionellen, nach der Form zum ersten
Straßenjungen — war Sancho Pansa im „Don
realistischen Dichter. „Wenn Lesage die Erschütterung
Quixote des Miguel de Cervantes.s)
des alten Reiches schildert, die Fehlgriffe und Eigen¬
Dieser Roman vor allem war mit seiner leisen Re¬
üchtigkeiten der Minister, die Gaunereien und Unter¬
signation eine bitterernste Sallre gegen den zeitgenös¬
chlagungen der Unterbeamten, so erblicken wir entsetzt
ischen Ritterroman.
die ganze verrottete Wirtschaft der ffentlichen Zu¬
Der „Don Quixote“ ist in den letzten Jahren aus
stände unter dem alternden König, ebenso wie die le¬
Anlaß seines 300. Geburtstages (1605—1905) so oft
bendigen Schilderungen des Stadtlebens, der Stutzer,
und so eingehend in seiner kultur= und literarhistori¬
Schauspieler und Schriftsteller ein vernichtendes Ab¬
schen Bedeutung gewürdigt worden, daß wir bei diesem
bild der täglich wachsenden Sittenverwilderung geben.“
ersten der großen Weltanschauungsromane des 17.
Ueber aller Fäulnis, über allem Schmutz aber steht die
Jahrhunderts hier nicht zu verweilen brauchen. Es
heitere Ironie, die unzerstörbare Fröhlichkeit des aben¬
mag bei der Notiz bewenden, daß 1621 zu Koethen als
teuerlichen und leichtfertigen Helden, die den „Gil
rüheste deutsche Uebersetzung ein erst später zu einer
Blas“ für lange Zeit zu dem Lieblingsbuch der guten
Gesamtübersetzung erganzter Auszug, 22 Kapitei, er¬
Gesellschaft Europas machten.
schien: „Don Kichote de la Mantscha, das
Der kurze Rückblick auf „Don Quirote“, „Simpli¬
ist Junker Harnisch aus Fleckenlandt,
cissimus“ und „Gil Blas“ lehrt ein Doppeltes: ein¬
aus dem Spanischen ins Hochdeutsche versetzt durch
mal, daß der heute auf den verschiedensten Gebieten der
Pahsch Basteln von der Sohle.“
Kunst (Malerei, Plastik, Architektur, Kunstgewerbe,
Gleich Spanien und Deutschland erlebte auch Frank¬
Musik und Dichtung) entbrannte Kampf der Moderne
reich im 17. Jahrhundert im Volksroman den Kampf
gegen die als höfisch herrschende alte Richtung nichts
eines neuen realistischen Stils gegen verschrobene, ge¬
Ungewöhnliches ist, daß insbesondere die junge litera¬
zierte und gekünstelte Mache. Damals hub dort der
rische Bewegung, die seit den 80er Jahren des 19.
wohl auch heute noch nicht ganz ausgetragene Kampf
Jahrhunderts bei uns mit so schönen Erfolgen unauf¬
der Jungen gegen den sogenannten Klassizismus an;
haltsam vorwärts geschritten ist, gegenüber den großen
„es war das unwillkürliche, aber in sich selbst noch un¬
Bewegungen, die sich an die Namen Cervantes, Grim¬
klare Ringen und Streben nach einer Kunst und Dich¬
melshausen und Lesage knüpfen, doch nicht etwas so
tung, die nicht bloß in ihrem Inhalt, sondern auch in
Außerordentliches bedeutet, daß man sie gleich als „die
ihrer Formensprache das Gewächs und der Spiegel der
Revolution der modernen Literatur“ anzustaunen
eigenen Zeit und Volkstümlichkeit sei“ (Hermann
brauchte. Die andere, wichtigere Erkenntnis ist die,
Hettner, Geschichte der französischen Literatur im acht¬
daß unsere mehr durch die kaum absehbare Masse als
zehnten Jahrhundert, S. 56). Am kräftigsten und
durch bleibende Werke imponierende literarische Ueber¬
wirksamsten erhob sich der Widerstand gegen die höfi¬
produktion kein Werk aufzuweisen hat, von dem man
che Poesic in der erzählenden Dichtung. Die Märchen¬
agen könnte, daß es wie „Parzival“, „Don Quixoté“
dichtung leitete Charles Perrault zu den
„Simplicissimus“ „Gil Blas“ und auch noch „Wil¬
Schätzen der alten Volkspoesie. Im Roman führte das
helm Meisters Lehrjahre“ von dem Wesen unserer Zeit
Verlangen nach dem Eigenartigen und Ursprünglichen,
ein umfassendes Bild in der Kunstform des Romans
nach einer treuen und herzhaften Schilderung der
gäbe.
nächsten Gegenwart und Wirklichkeit, auf dem Boden
Gewiß, wir haben hervorragende Romane von kul¬
der sittlichen Verwilderung jener Zeit mit Notwendig¬
turgeschichtlichem Wert. Ich greife nur drei heraus:
keit zur satirischen Romandichtung; ihr Schöpfer und
Gustav Freussens „Hilligenlei", Thomas
Meister wurde der 1668 in der Bretagne geborene
Manns „Die Buddenbrooks“ und Artur
René Lesage.
Schnitzlers „Der Weg ins Freie“. Doch
In seinem bedeutsamsten Roman*), der „Ge¬
jeder von ihnen gibt nur ein Segment. Der eine be¬
chichte des Gil Blas von Santil¬
rührt die neureligiöse Bewegung, die noch lange nicht
oder schon längst nicht mehr eine Sache der Allgemein¬
5)
Miguel de Cervantes, Der scharfsinnige
heit ist; der andere beschränkt sich auf eine bestimmte
Ritter Dom Quixote von der Mancha. Vollständige
deutsche Taschenausgabe in drei Bänden, besorgt von Konrad
Stadt von stark ausgeprägter Eigenart-und auf einen
Thorer. Titel und Einbandzeichnung von Karl Czeschka.
besonderen Stand, der letzte bringt eine einzelne Zeit¬
Leipzig, Insel=Verlag. Geheftet 10 M. In Leinen 14 K. In Leder
18 K.
frage in einer nur ermüdenden Breite. Ihnen allen
*) Lesage: Die Geschichte des Gil Blas von
fehlt das Umfassende. Auch Georg v. Omptehcke
Santillana. Deutsche Ausgabe in zwei Bänden, besorgt von
Hauptwerk „Deutscher Adel um 1900“ gibt
Konrad Thorer. Nachwort von Reinhard Buchwald.
Mit zwei Titelvignetten und acht Vollbildern nach Kupfern von
kein Gesamtbild; obwohl dem (leider auch meist
Daniel Chodowiecki in Lichtdruck. Leipzig. Insel=Verlag.
Geheftet 8 K, in Halbleder 12 K.
schnell fertigen) Freiherrn ein Zyklus von Romane
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Beilage der Münchner Neuesten Nachrichten
Seite 659
Unnatur des Kunstromans getreten, der zuerst Ritter¬
lana“, schließt er sich in Formen und Farben so eng
roman, dann Schäferroman und höfisch galanter Ge¬
an die neue spanische Schelmendichtung an, daß er ihn
chichtsroman war.
n Spanien spielen läßt. In Wahrheit aber ist der
Diese neue spanische Literatur hatte 1553 mit dem
Roman, dessen erste Bande 1715 erschienen, gleich Le¬
berühmten Schelmenroman des spanischen Staats¬
ages erstem Roman „Le Diable boiteux“ (1707)
mannes, Dichters und Geschichtsschreibers Don Diego
durch und durch französisch. Er wurzelt in dem
Hurtado de Mendoza „Lazarillo de Tormes“ eingesetzt.
Frankreich der letzten Jahre Ludwigs XIV. und
Die Krone ihrer realistischen Figuren — Julian
machte Lesage, wie Hettner bemerkt, nach dem Inhalt
Schmidt zieht treffend eine Parallele zu Murillos
zum ersten oppositionellen, nach der Form zum ersten
Straßenjungen — war Sancho Pansa im „Don
realistischen Dichter. „Wenn Lesage die Erschütterung
Quixote des Miguel de Cervantes.s)
des alten Reiches schildert, die Fehlgriffe und Eigen¬
Dieser Roman vor allem war mit seiner leisen Re¬
üchtigkeiten der Minister, die Gaunereien und Unter¬
signation eine bitterernste Sallre gegen den zeitgenös¬
chlagungen der Unterbeamten, so erblicken wir entsetzt
ischen Ritterroman.
die ganze verrottete Wirtschaft der ffentlichen Zu¬
Der „Don Quixote“ ist in den letzten Jahren aus
stände unter dem alternden König, ebenso wie die le¬
Anlaß seines 300. Geburtstages (1605—1905) so oft
bendigen Schilderungen des Stadtlebens, der Stutzer,
und so eingehend in seiner kultur= und literarhistori¬
Schauspieler und Schriftsteller ein vernichtendes Ab¬
schen Bedeutung gewürdigt worden, daß wir bei diesem
bild der täglich wachsenden Sittenverwilderung geben.“
ersten der großen Weltanschauungsromane des 17.
Ueber aller Fäulnis, über allem Schmutz aber steht die
Jahrhunderts hier nicht zu verweilen brauchen. Es
heitere Ironie, die unzerstörbare Fröhlichkeit des aben¬
mag bei der Notiz bewenden, daß 1621 zu Koethen als
teuerlichen und leichtfertigen Helden, die den „Gil
rüheste deutsche Uebersetzung ein erst später zu einer
Blas“ für lange Zeit zu dem Lieblingsbuch der guten
Gesamtübersetzung erganzter Auszug, 22 Kapitei, er¬
Gesellschaft Europas machten.
schien: „Don Kichote de la Mantscha, das
Der kurze Rückblick auf „Don Quirote“, „Simpli¬
ist Junker Harnisch aus Fleckenlandt,
cissimus“ und „Gil Blas“ lehrt ein Doppeltes: ein¬
aus dem Spanischen ins Hochdeutsche versetzt durch
mal, daß der heute auf den verschiedensten Gebieten der
Pahsch Basteln von der Sohle.“
Kunst (Malerei, Plastik, Architektur, Kunstgewerbe,
Gleich Spanien und Deutschland erlebte auch Frank¬
Musik und Dichtung) entbrannte Kampf der Moderne
reich im 17. Jahrhundert im Volksroman den Kampf
gegen die als höfisch herrschende alte Richtung nichts
eines neuen realistischen Stils gegen verschrobene, ge¬
Ungewöhnliches ist, daß insbesondere die junge litera¬
zierte und gekünstelte Mache. Damals hub dort der
rische Bewegung, die seit den 80er Jahren des 19.
wohl auch heute noch nicht ganz ausgetragene Kampf
Jahrhunderts bei uns mit so schönen Erfolgen unauf¬
der Jungen gegen den sogenannten Klassizismus an;
haltsam vorwärts geschritten ist, gegenüber den großen
„es war das unwillkürliche, aber in sich selbst noch un¬
Bewegungen, die sich an die Namen Cervantes, Grim¬
klare Ringen und Streben nach einer Kunst und Dich¬
melshausen und Lesage knüpfen, doch nicht etwas so
tung, die nicht bloß in ihrem Inhalt, sondern auch in
Außerordentliches bedeutet, daß man sie gleich als „die
ihrer Formensprache das Gewächs und der Spiegel der
Revolution der modernen Literatur“ anzustaunen
eigenen Zeit und Volkstümlichkeit sei“ (Hermann
brauchte. Die andere, wichtigere Erkenntnis ist die,
Hettner, Geschichte der französischen Literatur im acht¬
daß unsere mehr durch die kaum absehbare Masse als
zehnten Jahrhundert, S. 56). Am kräftigsten und
durch bleibende Werke imponierende literarische Ueber¬
wirksamsten erhob sich der Widerstand gegen die höfi¬
produktion kein Werk aufzuweisen hat, von dem man
che Poesic in der erzählenden Dichtung. Die Märchen¬
agen könnte, daß es wie „Parzival“, „Don Quixoté“
dichtung leitete Charles Perrault zu den
„Simplicissimus“ „Gil Blas“ und auch noch „Wil¬
Schätzen der alten Volkspoesie. Im Roman führte das
helm Meisters Lehrjahre“ von dem Wesen unserer Zeit
Verlangen nach dem Eigenartigen und Ursprünglichen,
ein umfassendes Bild in der Kunstform des Romans
nach einer treuen und herzhaften Schilderung der
gäbe.
nächsten Gegenwart und Wirklichkeit, auf dem Boden
Gewiß, wir haben hervorragende Romane von kul¬
der sittlichen Verwilderung jener Zeit mit Notwendig¬
turgeschichtlichem Wert. Ich greife nur drei heraus:
keit zur satirischen Romandichtung; ihr Schöpfer und
Gustav Freussens „Hilligenlei", Thomas
Meister wurde der 1668 in der Bretagne geborene
Manns „Die Buddenbrooks“ und Artur
René Lesage.
Schnitzlers „Der Weg ins Freie“. Doch
In seinem bedeutsamsten Roman*), der „Ge¬
jeder von ihnen gibt nur ein Segment. Der eine be¬
chichte des Gil Blas von Santil¬
rührt die neureligiöse Bewegung, die noch lange nicht
oder schon längst nicht mehr eine Sache der Allgemein¬
5)
Miguel de Cervantes, Der scharfsinnige
heit ist; der andere beschränkt sich auf eine bestimmte
Ritter Dom Quixote von der Mancha. Vollständige
deutsche Taschenausgabe in drei Bänden, besorgt von Konrad
Stadt von stark ausgeprägter Eigenart-und auf einen
Thorer. Titel und Einbandzeichnung von Karl Czeschka.
besonderen Stand, der letzte bringt eine einzelne Zeit¬
Leipzig, Insel=Verlag. Geheftet 10 M. In Leinen 14 K. In Leder
18 K.
frage in einer nur ermüdenden Breite. Ihnen allen
*) Lesage: Die Geschichte des Gil Blas von
fehlt das Umfassende. Auch Georg v. Omptehcke
Santillana. Deutsche Ausgabe in zwei Bänden, besorgt von
Hauptwerk „Deutscher Adel um 1900“ gibt
Konrad Thorer. Nachwort von Reinhard Buchwald.
Mit zwei Titelvignetten und acht Vollbildern nach Kupfern von
kein Gesamtbild; obwohl dem (leider auch meist
Daniel Chodowiecki in Lichtdruck. Leipzig. Insel=Verlag.
Geheftet 8 K, in Halbleder 12 K.
schnell fertigen) Freiherrn ein Zyklus von Romane