I, Erzählende Schriften 23, Der Weg ins Freie. Roman (Die Entrüsteten), Seite 380

23. Der Neg
ins Freie
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Beilage der Münchner Neuesten Nachrichten
Nr. 148
zur Verfügung stand, beschränkte er sich im wesent¬
Harder „Frau Maja“ geschrieben.“] Wir lernen
lichen auf einen Stand.
die strahlende junge Maja als Braut kennen, geleiten
Sollte unser modernes Leben so vielfältig sein, daß
sie dann durch sechs märchenhaft glückliche Ehejahre bis
es ein Künstler nicht in einem Spiegel sammeln
zum Augenblick, da ihr durch ein Eisenbahnunglück der
könnte? Ich glaube es nicht. Ich glaube, das Fehlen
Gatte entrissen wird. Die junge Frau, die bis dahin ein
eines großen Zeitromans beruht in erster Linie dar¬
Blumendasein geführt hat, bricht unter dem Schlag
auf, daß in unserer Zeit der Einzelforschung und Ar¬
zusammen, wendet sich verbittert ab vom Leben, den
beitsteilung auch die Dichter viel zu sehr von der hohen
Freunden, selbst den eigenen Kindern. Erst nach Jah¬
Warte über dem Leben der ganzen Nation herabge¬
ren gelingt es der fürsorglichsten Freundschaft, sie lang¬
stiegen sind, daß sie zum Teil sich sogar wie in einer
sam zu einem neuen Dasein zu wecken, kamit aber auch
Zunft zusammen= und gegen das große Leben außer¬
zu neuen Konflikten, denn auch der Lebe#sdurst erwacht
halb ihres engen Zunftkreises abgeschlossen haben, das
wieder und führt die Willenlose dicht zum Abgrund.
doch Tag für Tag und Jahr für Jahr in den breiten
Sie wird noch rechtzeitig zurückgerissen. Dies Ereignis
Strom der Geschichte fließt.
aber, vereint mit einem späteren, wirklich tragischen,
das sie im Haus ihres Bruders miterlebt, erweckt end¬
Erfreut und zweifelnd lesen wir da die Zeitungs¬
notiz, daß Hermann Bahr es wagen will, das
lich Willen und Erkenntnis in ihr, das Verstehen ihrer
Leben der Gegenwart in einem Zyklus von etwa einem
selbst und das Verständnis für die stille, selbstlose Nei¬
Dutzend Romanen zusammenzufassen und daß sein so¬
gung des Freundes, der schon lange der zweite Vater
eben ausgegebener Roman „Die Rahl“;) den An¬
ihrer Kinder geworden ist und dem auch sie nun den
fang des Unternehmens bilde. Ob es dem vielge¬
Platz des Verstorbenen einräumt. Nicht die sicher ge¬
vandten, geistvollen Wiener gelingen wird? Warten
führte Handlung ist hier die Hauptsache, auch nicht die
wir es ab!
psychologische Entwicklung der Personen. Die Stärke
der Verfasserin liegt im künstlerischen Verwerten ihres
7) Hermann Bahr: Die Rahl. Roman. S. Fischer, Vertag.
Berlin 1909.
Stoffes in seiner poetischen Ausgestaltung, in der wech¬
elnd bunten, aber stets klaren und feinen Zeichnung
des landschaftlichen Hintergrundes — von den rosen¬
Bächer aus Frauenhand.
umsponnenen Zypressen am Goldenen Horn bis zum
Lassen wir einer der unermüdlichsten den Vortritt.
plätschernden Brunnen im herbstlichen Park an der Ost¬
Die Heimburg hat ihrem neuen Roman den Titel
see. Es ist im ganzen ein lichtes und frohes Buch.
„Ueber steinige Wege gegeben.!)
Selbst in seine dunkelsten Partien verirrt sich oft wie
Steinige
Wege wandelt die junge Frau, die in etwas hysterischer
ein silberner Strahl ein Kinderlacher.
Eifersucht sich und den Gatten fast zu Grunde richtet,
Einen scharfen Kontraft zu den reinen Dur-Klängen
durch seine unentwegte Liebe und Treue aber endlich
des Harderschen Werkes bilden die grell dissonierenden
doch geheilt wird. Eine bunte Menge von Neben¬
Moll-Akkorde, die Sibilla Aleramo in ihrem
personen gibt das Relief für die Haupthandlung des
Roman „Eine Frau“ anschlägt.]] Das Buch soll in
Romans, der spannend geschrieben ist und von dem
seiner Heimat Italien Aufsehen gemacht haben, und
Kreis der Heimburg=Freunde — sie sind wohl meist
der deutschen Uebersetzung hat Georg Brandes ein
feminini generis — dankbar begrüßt werden wird. —
Vorwort geschrieben.
— Dieser Roman einer Mutter,
Zur reinen Unterhaltungslektüre gehört auch das
die ein Jahr, ehe sie ihn schrieb, ihr Kind verlassen hat,
Neueste von J. v. Dürow: „Und es entgeht
weil es sie ekelte, mit seinem Vater weiter zusammen¬
ihr Keiner.") Der Liebe nämlich, will die Ver¬
zuleben, ist in erster Linie eine Verteidigungsschrift.
fasserin sagen. Der Stil des Buches ist flott, die Fabel
In dieser Eigenschaft wendet er sich an den Bekann¬
nicht sehr originell. Das Brautpaar aus der Gesell¬
tenkreis der Verfasserin, vor allem an ihren Sohn,
schaft, das ohne wahre Liebe sich verlobt und eigentlich
„quand il aura vingt ans“. Er ist ferner eine An¬
chlecht zusammenpaßt. Er, gediegen ernsthaft, schwärmt
klageschrift gegen die rückständige Gesetzgebung Ita¬
für Kunst und Natur, will den bunten Rock ausziehen,
liens, die die verheiratete Frau noch immer zur lebens¬
um seinen Kohl zu bauen. Sie, oberflächlich, verwöhnte
änglichen Sklavin auch des tätlich brutalen und treu¬
Gesellschaftsdame, schwärmt fürs Militär, für die große
losen Mannes macht. So muß er überall, wo die Ehe¬
Welt. Sie wird plötzlich von echter Leidenschaft für
scheidung noch unmöglich oder verpönt ist, tiefste Wir¬
einen Künstler erfaßt, schreibt dem Bräutigam ab,
kung ausüben. Endlich mag diese Autobiographie, die
nimmt auch den Künstler nicht, geht mit dem Vater auf
ich bestrebt, wahrhaftig zu sein, dem Psychologen nützen.
Reisen, wo sie, durch ihre Herzenskämpfe geläutert, sich
Er wird aus ihr seine Kenntnis erweitern von der
mit einem inzwischen verwitweten Jugendbekannten
modernen, durch den Feminismus erweckten weiblichen
zusammenfindet. Dann ist da noch ein Gesellschafts¬
Psyche. Wer zu keiner der genannten Klassen gehört,
fräulein im Elternhaus der Braut, eine verkappte Kom¬
wird vieles in dem Buch mit menschlichem Interesse
tesse, die schwere Schicksale erlebt hat, gediegen und
lesen, manches mit Widerwillen, nicht weniges mit
ernsthaft ist, für Kunst, Natur und Landleben schwärmt
Langweile und nichts mit künstlerischem Genuß. Ein
... (siehe oben). Das Weitere ist selbstverständlich. —
Kunstwerk, einen wirklichen „Roman“ hat Frau Ale¬
Für höhere Ansprüche ist der Roman von Agnes
ramo nicht geschaffen. Dazu fehlt ihr die Distanz den
1) Union, Deutsche Verlagsgesellschaft.
3)
Dresden, Verlag von Karl Reißner.
*) Berlin W., Verlag von Albert Goldschmidt.
4) Berlin, bei Marquardt & Co.