23. Der Nec ins Freie
eee. G eteete estetesteeenseeeenseengenne.
Seite 48
Beilage der Münchner
dem Cesare Borgia, mit dem Taine diesen gewalt¬
tätigen, skrupellosen Riesenschurken vergleicht. Mono¬
manen des Lasters, Geiz= und Unzuchtsteufel, von
Eigennut und Ehrsucht besessen, radikale Bösewichter,
halbe und ganze Bestien, wie sie Balzac mit dem her¬
ausfordernden Trotz eines Tierbändigers seinem den
Atem ängstlich einhaltenden Zuschauerkreis vor Augen
stellt, sind mit Sittensprüchlein und Traktätchen nicht
zu zähmen. Es gehört zu den unlösbaren Wider¬
sprüchen im Wesen Balzacs, daß er als docteur &s
sciences sociales anders redete wie als erbarmungs¬
loser Naturforscher unheilbarer Uebel der menschlichen
Natur. Die Wahrhaftigkeit des Beobachters, die Lei¬
denschaft des rücksichtslos die Wirklichkeit festhaltenden
Malers war seine Größe, der lehrhafte Zug seiner
Doktrinen sein Unheil: La dissertation et le commen¬
taire sont la peste de son style, gesteht sein großer
Antalt Taine (im Essay über Stendhal-Beyle).
Der Prologist der neuen Balzac=Verdeutschung,
Hugo v. Hofmannsthal, ist anderer Ansicht: „Im Auf
und Ab dieser Lebensläufe, im Gewirr von ungefähr
3000 menschlichen Existenzen wird ungefähr alles be¬
rührt, was in unserem bis zur Verworrenheit kompli¬
zierten Kulturleben überhaupt einen Platz einnimmt.
Und fast alles, was über diese Myriaden von Dingen,
Beziehungen, Phänomen, gesagt ist, strotzt von Wahr¬
heit.“ Womöglich noch hymnischer, orakelhafter ist der
Ton, in dem Hofmannsthal vom Charakteristiker, vom
Epiker, vom Zykliker Balzac spricht. Shakespeare und
Goethe ergänzt Balzac zum Dreiklang ... Herr v. Hof¬
Enthusiasmus erfüllten Einleitung zur neuen Balzuc¬
Ausgabe nicht zum ersten Mal über den Meister: ich
entsinne mich, vor Jahr und Tag ein Gespräch zwischen
Balzac und Hammer=Purgstall gelesen zu haben, das
auch in seinen hauptsächlichen geschichtlichen Voraus¬
setzungen ein Phantasiestück war wie dieser jüngste Be¬
geisterungs=Ausbruch. An sich wäre gegen derartige
dichterische Formen literarischer Urteile nichts einzu¬
wenden: das Halbdutzend Blätter Grillparzers „Fried¬
rich der Große und Lessing. Ein Gespräch im Elysium“
wiegt durch geistige Schärfe, kritische Strenge, künstle¬
rische Weisheit nach meinem Geschmack ungezählte
bändereiche Geschichten unserer klassischen und neueren
Literatur auf. Wo jedoch der Phantasiestück=Dichter
Grillparzer bedacht scheidet und unterscheidet, wird
Hofmannsthal leider phantastisch und orphisch. Wo
Sainte=Beuve, Taine, Edmond Scherer, Le Breton,
Theophil Gautier, die Goncourt, Faquet, kurzum die
berufensten französischen Kenner Licht und Schatten
abstufen, arbeitet Hofmannsthal mit einer jedem ge¬
sunden Auge auf die Dauer unleidlichen grellen Tropen¬
sonne. Mit dem Uebereifer eines Fanatikers gewinnt
man aber in der Kunst noch weniger dauerhaften An¬
hang als in der Politik. Sachverständige Zuhörer
huben nur ein Lächeln für das Wort Clemenceaus:
man müsse die französische Revolution en bloc anneh¬
men oder verwerfen. Balzacs Lebenswerk wird kein
Unbefangener en bloc vorbehaltlos gelten lassen. Das
ist auch nicht notwendig. Glücklicherweise bleibt nach
der gewissenhaftesten Sichtung so viel Starkes und
Nr. 5
Neuesten Nachrichten
Dauerndes übrig, daß der Meister sich selbst am besten
verteidigen wird gegen die heillose Symphonie mit dem
Paukenschlag seines neuen deutschen Adepten. Herr
von Hofmannsthal wiederum ist erfreulicherweise noch
o jung, daß er — vingt ans après — in späteren
Phantasiestücken seinen bisherigen Eloges zu Ehren
von Victor Huay und Honoré de Balzac etwas dunk¬
lere Hintergründe geben wird. Ein leiser Lobspruch,
wenn er aus dem Munde eines Moltke kommt, ist
lange nicht der unwirksamste.
Aed
Der Weg ins Freie.
Wenn ein Schriftsteller wie der nun sechsundvierzig¬
ährige Schnitzler zum ersten Male einen Roman
chreiot, so ist das immerhin ein Ereignis. Wenn dieser
Roman als ein Ganzes und in allem einzelnen ein
künstlerisches Werk ist, so wird man Einwande gegen
hn, die nicht diese künstlerische Seite betreffen, nicht
ohne Respekt vorbringen. Wenn diese Einwände eine
oalte Frage betreffen wie die nach der Pflicht des un¬
ehelichen Vaters, wird man es sich dreimal überlegen,
ehe man sie äußert.
In einem der stärksten Romane des letzten Jahres
kommt diese Situation vor: Der alte Lukas Hoch¬
traßer hat erfahren, daß sein Sohn zwei Mädchen ver¬
führt hat, von denen die eine in den Tod gegangen,
die andere seine Braut gewesen ist. Er reißt ihm die
Offiziersabzeichen von der Uniform und jagt ihn aus
dem Hause.
In Artur Schnitzlers Roman kommt diese Situation
vor: Der alte Rosner hat erfahren, daß Baron Wer¬
genthin seine Tochter verführt hat. Er versichert ihm „in
einem Gespräche von vollkommener Aussichtslosigkeit“
mehrmals, wie peinlich, ja schmerzlich das für ihn sei,
entschuldigt sich, gestört zu haben, verabschiedet sich und
wird vom Baron bis zur Stiege hinaus begleitet.
Dies ist der Unterschied zweier Temperamente,
zweier Kunstarten, zweier Rassen, zweier Weltanschau¬
ungen. Ernst Zahn ist pathetisch, von ethischem Ver¬
antwortlichkeitsgefühl durchdrungen, Deutschschweizer,
Anhänger der Vergeltungslehre. Artur Schnitzler ver¬
folgt keinerlei ethische Tendenz; er ist Oesterreicher,
Wiener, Jude, Skeptiker; als Ironiker mit leisem Un¬
terstrom von Sentimentalität steht er dem Leben ge¬
genüber: es reizt ihn, es zu malen, aber er richtet nicht
und straft nicht, wenn auch da und dort in seinem
Werke gedämpfte Anklagen und leise Verteidigungen
hörbar werden
Zur raschen Einführung in das Werk*) wird es nicht
unzweckmäßig sein,
ich das Personenverzeichnis zu¬
sammenzustellen wie
für einen Theaterzettel.
Georg Freiherr von Wergenthin, Komponist.
Felician Freiherr von Wergenthin, sein Bruder.
Salomon Ehrenberg, Bankier.
Seine Frau.
Else, seine Tochter.
Oskar, sein Sohn.
Berlim, S. Fischer.
Aa
eee. G eteete estetesteeenseeeenseengenne.
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Beilage der Münchner
dem Cesare Borgia, mit dem Taine diesen gewalt¬
tätigen, skrupellosen Riesenschurken vergleicht. Mono¬
manen des Lasters, Geiz= und Unzuchtsteufel, von
Eigennut und Ehrsucht besessen, radikale Bösewichter,
halbe und ganze Bestien, wie sie Balzac mit dem her¬
ausfordernden Trotz eines Tierbändigers seinem den
Atem ängstlich einhaltenden Zuschauerkreis vor Augen
stellt, sind mit Sittensprüchlein und Traktätchen nicht
zu zähmen. Es gehört zu den unlösbaren Wider¬
sprüchen im Wesen Balzacs, daß er als docteur &s
sciences sociales anders redete wie als erbarmungs¬
loser Naturforscher unheilbarer Uebel der menschlichen
Natur. Die Wahrhaftigkeit des Beobachters, die Lei¬
denschaft des rücksichtslos die Wirklichkeit festhaltenden
Malers war seine Größe, der lehrhafte Zug seiner
Doktrinen sein Unheil: La dissertation et le commen¬
taire sont la peste de son style, gesteht sein großer
Antalt Taine (im Essay über Stendhal-Beyle).
Der Prologist der neuen Balzac=Verdeutschung,
Hugo v. Hofmannsthal, ist anderer Ansicht: „Im Auf
und Ab dieser Lebensläufe, im Gewirr von ungefähr
3000 menschlichen Existenzen wird ungefähr alles be¬
rührt, was in unserem bis zur Verworrenheit kompli¬
zierten Kulturleben überhaupt einen Platz einnimmt.
Und fast alles, was über diese Myriaden von Dingen,
Beziehungen, Phänomen, gesagt ist, strotzt von Wahr¬
heit.“ Womöglich noch hymnischer, orakelhafter ist der
Ton, in dem Hofmannsthal vom Charakteristiker, vom
Epiker, vom Zykliker Balzac spricht. Shakespeare und
Goethe ergänzt Balzac zum Dreiklang ... Herr v. Hof¬
Enthusiasmus erfüllten Einleitung zur neuen Balzuc¬
Ausgabe nicht zum ersten Mal über den Meister: ich
entsinne mich, vor Jahr und Tag ein Gespräch zwischen
Balzac und Hammer=Purgstall gelesen zu haben, das
auch in seinen hauptsächlichen geschichtlichen Voraus¬
setzungen ein Phantasiestück war wie dieser jüngste Be¬
geisterungs=Ausbruch. An sich wäre gegen derartige
dichterische Formen literarischer Urteile nichts einzu¬
wenden: das Halbdutzend Blätter Grillparzers „Fried¬
rich der Große und Lessing. Ein Gespräch im Elysium“
wiegt durch geistige Schärfe, kritische Strenge, künstle¬
rische Weisheit nach meinem Geschmack ungezählte
bändereiche Geschichten unserer klassischen und neueren
Literatur auf. Wo jedoch der Phantasiestück=Dichter
Grillparzer bedacht scheidet und unterscheidet, wird
Hofmannsthal leider phantastisch und orphisch. Wo
Sainte=Beuve, Taine, Edmond Scherer, Le Breton,
Theophil Gautier, die Goncourt, Faquet, kurzum die
berufensten französischen Kenner Licht und Schatten
abstufen, arbeitet Hofmannsthal mit einer jedem ge¬
sunden Auge auf die Dauer unleidlichen grellen Tropen¬
sonne. Mit dem Uebereifer eines Fanatikers gewinnt
man aber in der Kunst noch weniger dauerhaften An¬
hang als in der Politik. Sachverständige Zuhörer
huben nur ein Lächeln für das Wort Clemenceaus:
man müsse die französische Revolution en bloc anneh¬
men oder verwerfen. Balzacs Lebenswerk wird kein
Unbefangener en bloc vorbehaltlos gelten lassen. Das
ist auch nicht notwendig. Glücklicherweise bleibt nach
der gewissenhaftesten Sichtung so viel Starkes und
Nr. 5
Neuesten Nachrichten
Dauerndes übrig, daß der Meister sich selbst am besten
verteidigen wird gegen die heillose Symphonie mit dem
Paukenschlag seines neuen deutschen Adepten. Herr
von Hofmannsthal wiederum ist erfreulicherweise noch
o jung, daß er — vingt ans après — in späteren
Phantasiestücken seinen bisherigen Eloges zu Ehren
von Victor Huay und Honoré de Balzac etwas dunk¬
lere Hintergründe geben wird. Ein leiser Lobspruch,
wenn er aus dem Munde eines Moltke kommt, ist
lange nicht der unwirksamste.
Aed
Der Weg ins Freie.
Wenn ein Schriftsteller wie der nun sechsundvierzig¬
ährige Schnitzler zum ersten Male einen Roman
chreiot, so ist das immerhin ein Ereignis. Wenn dieser
Roman als ein Ganzes und in allem einzelnen ein
künstlerisches Werk ist, so wird man Einwande gegen
hn, die nicht diese künstlerische Seite betreffen, nicht
ohne Respekt vorbringen. Wenn diese Einwände eine
oalte Frage betreffen wie die nach der Pflicht des un¬
ehelichen Vaters, wird man es sich dreimal überlegen,
ehe man sie äußert.
In einem der stärksten Romane des letzten Jahres
kommt diese Situation vor: Der alte Lukas Hoch¬
traßer hat erfahren, daß sein Sohn zwei Mädchen ver¬
führt hat, von denen die eine in den Tod gegangen,
die andere seine Braut gewesen ist. Er reißt ihm die
Offiziersabzeichen von der Uniform und jagt ihn aus
dem Hause.
In Artur Schnitzlers Roman kommt diese Situation
vor: Der alte Rosner hat erfahren, daß Baron Wer¬
genthin seine Tochter verführt hat. Er versichert ihm „in
einem Gespräche von vollkommener Aussichtslosigkeit“
mehrmals, wie peinlich, ja schmerzlich das für ihn sei,
entschuldigt sich, gestört zu haben, verabschiedet sich und
wird vom Baron bis zur Stiege hinaus begleitet.
Dies ist der Unterschied zweier Temperamente,
zweier Kunstarten, zweier Rassen, zweier Weltanschau¬
ungen. Ernst Zahn ist pathetisch, von ethischem Ver¬
antwortlichkeitsgefühl durchdrungen, Deutschschweizer,
Anhänger der Vergeltungslehre. Artur Schnitzler ver¬
folgt keinerlei ethische Tendenz; er ist Oesterreicher,
Wiener, Jude, Skeptiker; als Ironiker mit leisem Un¬
terstrom von Sentimentalität steht er dem Leben ge¬
genüber: es reizt ihn, es zu malen, aber er richtet nicht
und straft nicht, wenn auch da und dort in seinem
Werke gedämpfte Anklagen und leise Verteidigungen
hörbar werden
Zur raschen Einführung in das Werk*) wird es nicht
unzweckmäßig sein,
ich das Personenverzeichnis zu¬
sammenzustellen wie
für einen Theaterzettel.
Georg Freiherr von Wergenthin, Komponist.
Felician Freiherr von Wergenthin, sein Bruder.
Salomon Ehrenberg, Bankier.
Seine Frau.
Else, seine Tochter.
Oskar, sein Sohn.
Berlim, S. Fischer.
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