esellen
Jung
22. Der Tod ein
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Der Dichter und der Kaufmann traten herein. Der Dichter machte ein ver¬
letztes Gesicht, als er den Doktor auf dem kaum verwaisten Schreibtischsessel sitzen
sah, eine Jigarette in der Hand, die übrigens noch immer nicht angebrannt war,
und er schloß die Türe hinter sich zu. Nun war man hier doch gewissermaßen in
einer anderen Welt. „Haben Sie irgendeine Dermutung?“ fragte der Kaufmann.
„Inwiefern?“ fragte der Dichter zerstreut. „Was ihn veranlaßt haben könnte, nach
uns zu schicken, gerade nach uns!“ Der Dichter fand es überflüssig nach einer
besonderen Ursache zu forschen. „Unser Freund,“ erklärte er, „fühlte eben den Tod heran¬
nahen, und wenn er auch ziemlich einsam lebte, wenigstens in der letzten Zeit, — in einer
solchen Stunde regt sich in Naturen, die ursprünglich zur Geselligkeit geschaffen
sind, wahrscheinlich das Bedürfnis Menschen um sich zu sehen, die ihnen nahe
standen.“ „Er hatte doch jedenfalls eine Geliebte,“ bemerkte der Kaufmann. „Ge¬
liebte,“ wiederholte der Dichter und zog die Augenbrauen verächtlich in die Höhe.
Jetzt gewahrte der Arzt, daß die mittlere Schreibtischlade halb geöffnet war.
„Ob hier nicht sein Testament liegt,“ sagte er. „Was kümmert uns das,“ meinte
der Kaufmann, „zum mindesten in diesem Augenblick. Übrigens lebt eine Schwester
von ihm verheiratet in London.“
Der Diener trat ein. Er war so frei sich Ratschläge zu erbitten wegen der
Aufbahrung, des Leichenbegängnisses, der Partezettel. Ein Testament sei wohl
seines Wissens beim Notar des gnädigen Herrn hinterlegt, doch ob es Anordnungen
über diese Dinge enthielte, sei ihm zweifelhaft. Der Dichter fand es dumpf und
schwül im Zimmer. Er zog die schwere, rote Dortiere von dem einen Fenster fort
und öffnete beide Flügel. Ein breiter, dunkelblauer Streifen Frühlingsnacht floß
herein. Der Arzt fragte den Diener, ob ihm nicht etwa bekannt sei, aus welchem
Anlaß der Derstorbene nach ihnen allen habe senden lassen, denn wenn er es recht
bedenke, in seiner Eigenschaft als Arzt sei er doch schon jahrelang nicht mehr in
dieses Haus gerufen worden. Der Diener begrüßte die Frage wie eine erwartete,
zog ein übergroßes Dortefeuille aus seiner Rocktasche, entnahm ihm ein Blatt Dapier
und berichtete, daß der gnädige Herr schon vor sieben Jahren die Namen der
Freunde aufgezeichnet hätte, die er an seinem Sterbebett versammelt wünschte. Also
auch, wenn der gnädige Herr nicht mehr bei Bewußtsein gewesen wäre, er selbst
aus eigener Machtvollkommenheit hätte sich erlaubt nach den Herren auszusenden.
Der Arzt hatte dem Diener den Zettel aus der Hand genommen und fand
fünf Namen aufgeschrieben: außer denen der drei Anwesenden den eines vor zwei
Jahren verstorbenen Freundes und den eines Unbekannten. Der Diener erläuterte,
daß dieser letztere ein Fabrikant gewesen sei, in dessen Haus der Junggeselle vor
neun oder zehn Jahren verkehrt hatte, und dessen Adresse in Verlust und Vergessen¬
heit geraten wäre. Die Herren sahen einander an, befangen und erregt. „Wie ist
das zu erklären?“ fragte der Kaufmann. „Hatte er die Absicht eine Rede zu halten
in seiner letzten Stunde?“ „Sich selbst eine Leichenrede,“ setzte der Dichter hinzu.
Der Arzt hatte den Blick auf die offene Schreibtischlade gerichtet und plötzlich,
in großen, römischen Lettern, tarrten ihm von einem Kuvert die drei Worte ent¬
gegen: „An meine Freunde.“ „O,“ rief er aus, nahm das Kuvert, hielt es in
die Höhe und wies es den anderen. „Dies ist für uns,“ wandte er sich an den
Diener und deutete ihm durch eine Kopfbewegung an, daß er hier überflüssig sei.
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Der Dichter und der Kaufmann traten herein. Der Dichter machte ein ver¬
letztes Gesicht, als er den Doktor auf dem kaum verwaisten Schreibtischsessel sitzen
sah, eine Jigarette in der Hand, die übrigens noch immer nicht angebrannt war,
und er schloß die Türe hinter sich zu. Nun war man hier doch gewissermaßen in
einer anderen Welt. „Haben Sie irgendeine Dermutung?“ fragte der Kaufmann.
„Inwiefern?“ fragte der Dichter zerstreut. „Was ihn veranlaßt haben könnte, nach
uns zu schicken, gerade nach uns!“ Der Dichter fand es überflüssig nach einer
besonderen Ursache zu forschen. „Unser Freund,“ erklärte er, „fühlte eben den Tod heran¬
nahen, und wenn er auch ziemlich einsam lebte, wenigstens in der letzten Zeit, — in einer
solchen Stunde regt sich in Naturen, die ursprünglich zur Geselligkeit geschaffen
sind, wahrscheinlich das Bedürfnis Menschen um sich zu sehen, die ihnen nahe
standen.“ „Er hatte doch jedenfalls eine Geliebte,“ bemerkte der Kaufmann. „Ge¬
liebte,“ wiederholte der Dichter und zog die Augenbrauen verächtlich in die Höhe.
Jetzt gewahrte der Arzt, daß die mittlere Schreibtischlade halb geöffnet war.
„Ob hier nicht sein Testament liegt,“ sagte er. „Was kümmert uns das,“ meinte
der Kaufmann, „zum mindesten in diesem Augenblick. Übrigens lebt eine Schwester
von ihm verheiratet in London.“
Der Diener trat ein. Er war so frei sich Ratschläge zu erbitten wegen der
Aufbahrung, des Leichenbegängnisses, der Partezettel. Ein Testament sei wohl
seines Wissens beim Notar des gnädigen Herrn hinterlegt, doch ob es Anordnungen
über diese Dinge enthielte, sei ihm zweifelhaft. Der Dichter fand es dumpf und
schwül im Zimmer. Er zog die schwere, rote Dortiere von dem einen Fenster fort
und öffnete beide Flügel. Ein breiter, dunkelblauer Streifen Frühlingsnacht floß
herein. Der Arzt fragte den Diener, ob ihm nicht etwa bekannt sei, aus welchem
Anlaß der Derstorbene nach ihnen allen habe senden lassen, denn wenn er es recht
bedenke, in seiner Eigenschaft als Arzt sei er doch schon jahrelang nicht mehr in
dieses Haus gerufen worden. Der Diener begrüßte die Frage wie eine erwartete,
zog ein übergroßes Dortefeuille aus seiner Rocktasche, entnahm ihm ein Blatt Dapier
und berichtete, daß der gnädige Herr schon vor sieben Jahren die Namen der
Freunde aufgezeichnet hätte, die er an seinem Sterbebett versammelt wünschte. Also
auch, wenn der gnädige Herr nicht mehr bei Bewußtsein gewesen wäre, er selbst
aus eigener Machtvollkommenheit hätte sich erlaubt nach den Herren auszusenden.
Der Arzt hatte dem Diener den Zettel aus der Hand genommen und fand
fünf Namen aufgeschrieben: außer denen der drei Anwesenden den eines vor zwei
Jahren verstorbenen Freundes und den eines Unbekannten. Der Diener erläuterte,
daß dieser letztere ein Fabrikant gewesen sei, in dessen Haus der Junggeselle vor
neun oder zehn Jahren verkehrt hatte, und dessen Adresse in Verlust und Vergessen¬
heit geraten wäre. Die Herren sahen einander an, befangen und erregt. „Wie ist
das zu erklären?“ fragte der Kaufmann. „Hatte er die Absicht eine Rede zu halten
in seiner letzten Stunde?“ „Sich selbst eine Leichenrede,“ setzte der Dichter hinzu.
Der Arzt hatte den Blick auf die offene Schreibtischlade gerichtet und plötzlich,
in großen, römischen Lettern, tarrten ihm von einem Kuvert die drei Worte ent¬
gegen: „An meine Freunde.“ „O,“ rief er aus, nahm das Kuvert, hielt es in
die Höhe und wies es den anderen. „Dies ist für uns,“ wandte er sich an den
Diener und deutete ihm durch eine Kopfbewegung an, daß er hier überflüssig sei.