I, Erzählende Schriften 22, Der Tod des Junggesellen. Novelle, Seite 6

22. Der Tod eines Junvgesel
box 2/11
en e eg ziLen
23
Der Diener ging. „Für uns,“ sagte der Dichter mit weit offenen Augen. „Es kann
doch kein Zweifel sein,“ meinte der Arzt, „daß wir berechtigt sind, dies zu eröffnen.“
„Derpflichtet,“ sagte der Kaufmann und knöpfte seinen Überzieher zu.
Der Arzt hatte aus einer gläsernen Tasse ein Dapiermesser genommen,
öffnete das Kuvert, legte den Brief hin und setzte den Zwicker auf. Diesen
Augenblick benutzte der Dichter, um das Blatt an sich zu nehmen und zu
entfalten. „Da er für uns alle ist,“ bemerkte er leicht und lehnte sich an den
Schreibtisch, so daß das Licht des Deckenlusters über das Papier hinlief. Neben ihn
stellte sich der Kaufmann. Der Arzt blieb sitzen. „Dielleicht lesen Sie laut,“ sagte
der Kaufmann. Der Dichter begann:
„An meine Freunde.“ Er unterbrach sich lächelnd. „Ja, hier steht es noch
einmal, meine Herren,“ und mit vorzüglicher Unbefangenheit las er weiter. „Dor
einer Diertelstunde ungefähr hab' ich meine Seele ausgehaucht. Ihr seid an meinem
Totenbett versammelt und bereitet Euch vor, gemeinsam diesen Brief zu lesen,
wenn er nämlich noch existiert in der Stunde meines Todes, füg ich hinzu. Denn
es könnte sich ja ereignen, daß wieder eine bessere Regung über mich käme.“
„Wie?“ fragte der Arzt. „Bessere Regung über mich käme,“ wiederholte der Dichter
und las weiter, „und daß ich mich entschlösse, diesen Brief zu vernichten, der
ja mir nicht den geringsten Nutzen bringt und Euch zum mindesten unangenehme
Stunden verursachen dürfte, falls er nicht etwa einem oder dem anderen von Euch
geradezu das Leben vergiftet.“ „Leben vergiftet,“ wiederhölte fragend der Arzt und
wischte die Gläser seines Zwickers. „Rascher,“ sagte der Kaufmann mit belegter
Stimme. Der Dichter las weiter. „Und ich frage mich, was ist das für eine seltsame
Laune, die mich heute an den Schreibtisch treibt und mich Worte niederschreiben
läßt, deren Wirkung ich ja doch nicht mehr auf Euern Mienen werde lesen können?
Und wenn ich's auch könnte, das Vergnügen wäre zu mäßig, um als Entschuldi¬
gung gelten zu dürfen für die fabelhafte Gemeinheit, der ich mich soeben, und
zwar mit dem Gefühle herzlichsten Behagens schuldig mache.“ „Ho,“ rief der Arzt
mit einer Stimme, die er an sich nicht kannte. Der Dichter warf dem Arzt einen
hastig=bösen Blick zu und las weiter, schneller und tonloser als früher. „Ja,
Laune ist es, nichts anderes, denn im Grunde habe ich gar nichts gegen
Euch. Hab' Euch sogar alle recht gern, in meiner, wie Ihr mich in Eurer Weise.
Ich achte Euch nicht einmal gering und wenn ich Eurer manchmal gespottet habe,
so hab' ich Euch doch nie verhöhnt. Nicht einmal, ja am allerwenigsten in den
Stunden, von denen in Euch allen sogleich die lebhaftesten und peinlichsten Dor¬
stellungen sich entwickeln werden. Woher also diese Laune? Ist sie vielleicht doch
aus einer tiefen und im Grunde edlen Lust geboren nicht mit allzuviel Lügen aus
der Welt zu gehen? Ich könnte mir's einbilden, wenn ich auch nur ein einzigesmal
die leiseste Ahnung von dem vers ürt hätte, was die Menschen Reue nennen.
„Lesen Sie doch endlich den Schluß,“ befahl der Arzt mit seiner neuen Stimme.
Der Kaufmann nahm dem Dichter, der eine Art Lähmung in seine Finger kriechen
fühlte, den Brief einfach fort, ließ die Augen rasch nach unten fahren und las die
Worte: „Es war ein Verhängnis, meine Lieben, und ich kann's nicht ändern. Alle
Eure Frauen habe ich gehabt. Alle.“ Der Kaufmann hielt plötzlich inne und blätterte
zurück. „Was haben Sie?“ fragte der Arzt. „Der Brief ist vor neun Jahren geschrieben,“