I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 11

11.
Frau Bertha Garlan
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„I..
Wien, Montag
Literatur.
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Stille Bücher.
Marie v. Ebner=Eschenbach, „Aus Spätherbsttagen“. Berlin, bei Paetel,
1901.— J. J. David, „Troika“. Berlin, bei Schuster und Lössler,
1901. — Arthur Schnitzler, „Frau Berta Garlan“. Berlin, bei
S. Fischer 1901.
Vielerlei Bemühen um das Finden eines Erzähler¬
tones kann man an den Romanen der letzten Jahre merken.
Die alte Technik, wie Spielhagen und Freytag sie geübt
haben, ist durch den neuen Inhalt gesprengt worden. Der
Realismus und der Naturalismus — wie altväterisch
klingen heute diese Kampfesworte bereits! — hatten die Ver¬
suche, zu einem neuen Styl in der Epik zu kommen, in Wege
gelenkt, die heute wieder verlassen werden, da die breite,
milieuschildernde, nüchtern=photographische Manier über¬
wunden ist. Wer will sich darüber wundern? Je weiter man
in einer Technik kommt, desto mehr verliert sie ihre Reize
— das gilt natürlich nur für die Technik der Kunst. Jetzt,
wo die künstlerische Photographie sich seit Jahren in un¬
erhörter Weise entwickelt, wollen die beiden Vertreter dieser
Kunst von der Bezeichnung „Photograph“ nichts mehr
wissen, da sie den mechanischen Vorgang der Bild¬
aufnahme und Negativherstellung für belanglos im Ver¬
hältniß zur künstlerischen Arbeit am Drucke selbst halten.
Die eigentliche Photographie ist nur ein kleines Mittel.
Bei der Romantechnik liegt es jetzt nicht viel anders. Die
Aufzeichnung des Thatsächlichen, die Schilderung und die
Mittheilung der äußeren Geschehnisse tritt zurück vor der
Summe der Stimmung, die im Vortrage, dem Ton, Styl
der Darstellung liegt. Das ist natürlich, ist auch im Wesen
der Kunst begründet. Es nimmt ja Niemand ein Buch zur
Hand, um die Thatsachen des Lebens zu erfahren; aus
Romanen die Welt kennen lernen — welch armes und kläg¬

liches Bemühen! Die stärksten Schilderungen sind schwächer
als das Leben — wen wundert das? Nur einen klaren Ton
aus dem Orchester soll die Dichtung vermitteln, eine
bor!
Melodie, die sonst verklingt, uveriont wird, gleichsam
herausschälen aus dem Vielklang — auf diesem Wege
suchen Viele ein Gefühl des Lebens aus den Dichtungen zu
erhalten, nicht thatsächliche Details, nicht Fragmente aus
der Alltagsgeschichte.
Der Ton der Erzählung ist aber noch nicht gefunden.
Teusend Bestrebungen sind bisher noch fruchtlos gewesen.
In Novellen ist es Dem und Jenem das eine oder das
andere Mal gelungen, die österreichische Art, das Wesen
unserer Menschen, ihre Haltung im Schicksal und im un¬
bewegten Leben darzustellen; einen österreichischen modernen
Roman haben wir noch nicht. Einen Wiener allerdings
noch weit weniger. Die Bedingung des harmonischen Sehens
fehlt noch immer. Manchmal scheint es fast, als seien die
Augen unserer Dichter noch zu zerstreut, zu befangen,
um einen großen Complex von Erscheinungen einheitlich
zu sehen und zu gestalten. Sie sind noch zu verwirrt, noch
unsicher. Immer wieder flüchten sie zür Novelle, für die
ihr Athem reicht, bemühen sich um die peinliche Dar¬
stellung eines Lebensausschnittes. Drei schöne Bücher, die
der Anfang dieses Jahres unserer heimischen Literatur
geschenkt hat, erwecken aufs Neue diese Gedanken, diesen
Wunsch nach einem österreichischen Roman. Jedes von ihnen
ist vollendet in den selbstgezogenen Grenzen der Novelle.
Von Frau Marie v. Ebner=Eschenbach's reifer Kunst
Neues zu hören, wird Niemand verlangen dürfen. Das
Buch „Aus Spätherbsttagen“ hat jene zarte und milde
Art, die damit versöhnt, daß man den Dichter ins Alter
vorgerückt fühlt. Jene klare Ruhe, die Fontane'sche Romane
verspüren ließen, am stärksten natürlich der wundervolle,
im Ton so weise „Stechlin“, beherrscht auch in diesen
Novellen die Darstellung. Der große Zorn, die wilde Wuth,
die manches Jugendwerk erfüllt, sind besiegt worden eben
von all den Schicksalen, die über den Dichter gekommen,
Neues Wiener Tagblatt.

„Frau Berta Garlan“ gibt in der That bereits ein volles
Menschenbild, eine Entwicklung, allerdings doch wieder Rl
durch das enge Schicksal gebunden nur einen kleinen Aus¬ ga
schnitt aus dem großen Leben. Der Ton der Darstellung
He
kann hier fast historisch genannt werden; ich meine, der
Dichter strebt nach Vollständigkeit und Continuität in der
rist
Darstellung der aufeinanderfolgenden Begebenheiten, Ge¬
fühls= und Stimmungswandlungen. Manchmal erinnert
un
diese Art an das Spiel des Kinematographen; kein Detail
soll vernachlässigt werden, so daß aus der ununterbrochenen
Fülle der nacheinander dargestellten Erscheinungen ein Dr
volles und unverkürztes Lebensbild erscheinen möge.
Frau Berta Garlan war ein Mädchen, das in den Hif
Lei
engen Kreisen des mittleren Bürgerstandes erwuchs. Sie
reifte in Sehnsucht zum Weibe, ein Jugendfreund ließ
die erste Liebe in ihr erstehen, dann — dann aber ging er
Sta
weg; ein inniger, zärtlicher, mädchenhafter Kuß ist Alles,
was diese Liebesepisode an Schicksal aufzuweisen hat. Mit
dem Jugendfreunde, einem Musiker, stirbt in dem Mädchen

auch alle Sehnsucht nach der Künstlerschaft; fruher hat sie mus
ja Clavier gespielt, und mancherlei Wünsche waren in ihr
wach, zuweilen heftig und stürmisch gewesen. Nun steht Oest
Berta wohl manchmal am Fenster ihres Zimmers mit
Aln
dumpfen Träumen, oder später müde von allzulanger Er¬
Rei
wartung, schließlich wunschlos. Die Eltern sterben, Herr
Garlan, ein braver Mann, tritt als Freier auf, wird an¬

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genommen, eine Provinzstadt nimmt Frau Berta Garlan
in ihre Kreise von Häuslichkeit und Enge. Es ist keine! Ver
Liebe, aber es ist Ruhe, Begebnißlosigkeit. Ein Kind
kommt, und nun ist Frau Berta Garlan Mutter. Das
Beu
wäre Alles, ein Leben wie tauseno andere — da stirbt
Herr Garlan, und Frau Berta ist eine junge Witwe. Noch 2. 2
lebt sie einige Jahre fort ohne Gefühle, ohne Wünsche und
Begierden, bis dann allerhand Erinnerungen kommen, Ber
Jugendlichkeiten wieder wach werden und in der Frau, an Wie
deren Hand ein fünfjähriger Bub geht, Gedanken erstehen,
wie früher dem Mädchen. Das Alles von früher, die
Liebe zu Emil scheint ihr zugleich so lange her und doch
Sch
kaum erst gewesen — denn was hat sie denn wahrhaft Car
erlebt in dieser Zeit? Was — außer dem Buben, der an
ihrer Seite spielt? Frau Berta findet den Weg zu Emil, 1 Zür
dem Jugendfreunde, der nun ein berühmter Virtuose ist.
Sie wird seine Geliebte. Und nun, scheint ihr, müsse] Th.
Alles ein anderes Gesicht bekommen, ein neues
Ein
Leben anheben. Sie will dann wieder nach Wien,
will Clavier spielen, bei dem Geliebten sein. Rei¬
Allein sie muß erkennen, daß sie ihm nur eine Anekdote

war, Eine am Wege. Fur sie ist er das ganze Leben, ein des
Anfang zu Neuem, für ihn am anderen Morgen nur eine ber
Erinnerung, die man vielleicht alle paar Wochen einmal 1187
auffrischen könnte. Das ist der große und ständige Vorwurf
A.
der Frau, sdie Ungerechtigkeit des Mannes. Oder vielleicht
ist eben das die Tragik der meisten Beziehungen zwischen
Mann und Frau, der Abstand zwischen der Liebes¬
Dei
empfindung der beiden Geschlechter. Für das Weib ist die
des
Liebe das eine Schicksal, der Lebensinhalt, und für den
und
Mann ein Erlebniß, ein Ereigniß neben vielen, nur zu
Zeiten und für kurze Abschnitte des Daseins zu starker
träg
Bedeutung emporgehoben. Frau Berta muß diese Tragik
schr
verspüren. Sie kehrt zurück in den Alltag, nachdem sie die
eine Stunde der Sinnlichkeit, des Frühlings in ihrem
r
Leibe, verspeist hat. Ein leises Frösteln kommt ihre Seele
Dr.
noch die Rückkehr, offen hat in das Leben der kleinen Stadt] Lei
und der kleinen Menschen. Nur ist sie um eine Lehre reicher:
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Sie weiß, daß jede dieser Frauen der kleinen Stadt, deren
u. L
einzige Sorgen in Kinderstube und Waschküche aufzugehen
scheinen, wohl auch die Schicksalsstunde gehabt hat, die
zeitr
Sünde begangen, den Kumpf durchgemacht, die Ent¬
Wie
täuschung erlitten . .. #is Frau Berta Garlan in ihre
Stadt zurückkehrt, wird eden ein Leben geendet: eine Frau,