I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 26

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Garlan
11. Frau Bertha
#. K. C. d 1 a d. aun an — an K. — — 4
Die „Verlorenen“.
(Von unserem Korrespondenten.)
+ Wien, im Mai.
4
(Nachdruck verboten.)
Es sind eigentlich gar keine Verlorenen — ich glaube, sie
thun nur so oder sie scheinen nur so. Ich bitte also über
den Titel, den ich über diese Zeilen geschrieben habe, nicht zu
sehr zu erschrecken. In unserer Zeit der Dekadenten ist man
im Allgemeinen an stärkeren Tabak gewöhnt, als ich hier vor¬
zurauchen beabsichtige. Den bedenklichen Titel gab mir ein
Buch ein, an das die Welt in diesen Tagen erinnert wurde.
durch den Tod der Frau, die es verfaßt hatte. Die „Lieder
einer Verlorenen“ hatten ihren Tag der Sensation.
Sie fielen in eine Zeit, in der Alles in über¬
lieferken Formen erstarrt schien und selten ein Dichter erschien,
der in die Formen neuen Inhalt brachte. Und nun diese
Naturlaute, diese süß und meisterlich gesungenen und dann
wieder schülerhaft gestammelten Verse! Ein herber Schmerz
sprach aus ihnen, ab und zu hörte man den wilden
Aufschrei einer gequälten Seele. ... Wer war die Dichterin?
Den Namen Ada Christen, der über Nacht berühmt wurde,
hatte man nie vorher gehört. Waren ihr Schmerz und ihr
Wolterschrei nicht auch nur Pose, wie das Meiste in der
gekünstelten Dichtung jener Tage? Vielleicht waren sie echt;
die bewegten Schicksale der Dichterin, von der man bald mehr!
Lieder waren, in deren Titel sie etwas wie ein Geständnis fallen da erwecken versch
erfuhr, hätten wohl die richtige Stimmung zu Versen bieten
machte. Solche Bekenntnisse sind unaugenehm für eine
als Weib. Ein Jugend
können, in denen wahrer Gram zitterte und unverfälschte Thränen
die
vornehme Dame, die in den Salons erscheint,
vor ihr wiedes lebendig
geweint wurden und aus deuen doch jener liebenswürdige
im eigenen Wagen fährt und überall eingeladen werden will.
künstlers, den sie ein
Cynismus lächelte, den wir schon von Heinrich Heine gekannt.
Indessen — vielleicht war es doch nur Pose gewesen, um die
großen Welt da draußen
Ada Christen?) war eine traurige Jugend beschieden gewesen.
noch immer zu lieben,
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wer der Dame gegen¬
Eine verarmte Familie mit sechzehn Kindern in den höhlen¬
übersaß, ihr bedächtiges zurückhaltendes wohlabgemessenes
brieflicher Verkehr und
artigen Wohnhäusern der entlegensten Vorstadt — zu der
mit kurzem, berauschend
Wesen in dem animirtesten Milieu beobachtete, wer ihre allzu
gehörte sie. Mit fünfzehn Jahren ging sie zum Theater um
üppige Fleischlichkeit bewunderte und den Glanz der haselnu߬
denkt an gewaltige Un
sich selbst ihr Brod zu verdienen, und nun kommt das Elend
großen Brillanten in den Ohren, der mußte sich wohl sagen.
in die Hauptstadt übers
des Wanderkomödienthums, der traurigen „Verpflichtungen“ an
die vornehme Frau böte das Bild der satten Tugend auf
weilen zu können, do
kleinen deutschen Bühnen in Ungarn. Dann heirathet sie; doch
dem Gipfel der Vollkommenheit. Sie spielte auch in keinem
den Kampf ums Dasein
da leuchtete nur ein flüchtiger Sonnenstrahl. Im zweiten
und entschieden Alles ab
anderen Buche mehr die Verlorene und damit war es um
Jahre der Ehe wird der Gatte wahnsinnig, und die Frau
die zauberhafte Wirkung ihres ersten Auftretens geschehen.
die Begegnung mit der I
sitzt an seinem Bette sie pflegt und beruhigt den Kranken,
Sie interessirte nun die Welt nicht mehr, die sie
flüchtigen Stunde, das
und wenn eine Pause eintritt in seinen schrecklichen Phantasien,
nach und nach vergaß, sie verlor dann auch, wie
dem aber bei Leibe ke
dann tönt der Kummer der herzquälerischen Stunden in
man sagte, ihre Millionen, und zuletzt befielen sie
arie Weiblein fällt au
Versen aus; wie unbewußt entstehen die ersten Gedichte Ad¬
körperliche Leiden. Arme Frau! Sie strahlte auf wie ein
bette einer Freundin,
Christens.
Stern der Dichtkunst und sie lebte und verlosch wie ein ganz
wird, kommt ihr Klarl.
Die „Lieder einer Verlorenen“ wurden, wie gesagt, übet
gewöhnliches, armseliges Menschenkind.
verwirrungen der letzten
tacht berühmt, Alles griff nach ihnen, man verschlang sie
Und nun zu einer anderen Verlorenen, die auch nicht zu
daß sie den Geigenkünft
örmlich, man klatschte ihnen zu, wie es das Publikum immer.
der richtigen Race der Verlorenen gehört. Gestatten Sie daß
Abscheu über das Verg
hut, wenn auf der Bühne echtes Herzblut vergossen wird, ob
ich Ihnen von den kleinen, aber immerhin merwürdigen
jenen Frauen gehöre, bi
auch der Held oder die Heldin dabei verblute. Aber war es
Episoden einer anderen Buchdame erzähle, von der man im
über die Trostlosigkeite
wirklich echt? Die Frage drängte sich Einem wieder
Augenblicke hier sehr viel spricht. In allen Salons erörtert
Wenn das eine Verloren
auf, wenn man der Dichterin gegenübersaß. Etwa zehn
man ihre kleine Affäre, und die prüdesten Damen gestehen,
gefunden, und die Verlo
Jahre später lernte ich sie kennen. Sie war glücklich
sich mit ihr befaßt zu haben, auf allen rothen Lippen
sind auch nicht die richt
verheirathet an einen Rittmeister a. D., einen geachteten
ist ihr Name geläufig
es ist Frau Bertha Garlan.
schicksale bilden den I#
Militärschriftsteller. Sie hatte sich als tüchtige, unternehmende
Schnitzler:
Auch dies ein Armes=Mädchen= Schicksal.
von Arthur &
Auch eine
Frau gezeigt hatte eine Konservenfabrik gegründet und war
Und noch eine Berro
verarmte Familie. Die Tochter, die künstlerische
durch sie Millionärin geworden. Man denke, Millionärin!
Neigungen besaß und eine Zeit lang das Wiener
jüngste Ausstellung un
Man erzählte sogar sie besitze weuigstens zwei Millionen,
Konservatorium besuchte, heirathet schließlich der Versorgung
neunundachtzig Gema
und sie spielte, wie dies bei so schönen Prosastücken natürlich,
willen einen kleinen Kaufmann in der Provinz und führt
hann Viktor Krämer.
eine Rolle in der Gesellschaft. Und wenn sie wirklich zwei
dort ein stilles Dasein in angenehmen Verhältnissen, bis eines
kann. Er bietet bea
Millionen besaß, so hätte sie jedenfalls eine gern darum ge¬
Tages, schon nach wenigen Jahren der Ehe, der Gatte stirbt.
jedem Gebiet der Male
geben, wenn sie die „Lieder einer Verlorenen“ nicht geschrieben
Sie giebt nun Klavierlektionen, freundlich unterstützt von der
Orient, wie den „Zigen
hätte, die Lieder, die sie berühmt gemacht, mit denen sie sich
Familie des Verstorbenen, erzieht ihren Knaben und empfindet
den „Lustigen Neger“
in das Herz der Jugend eingesungen, und die leider auch die
nur ein leises Unbehagen gegenüber den kleinlichen Verhält¬
Andere, dann sehr ho
Kleinmalerei voll Fein
nissen des österreichischen Provinzstädtchens, wo alles versauert
*) Deren Bild wir in der nächsten Nummer unseres „Welt= und versumpft. Auch sie droht diesem Schicksal anheimzu¬ Historiengemälde, Genr
spiegels“ veröffentlichen.