I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 30

11. Frau Bertha Garlan


8 Belletristische Spazirgänge.
Allzu gut ist es im Augenblick mit der deutschen Erzählungs¬
kunst nicht bestellt. Es sind da viele Hoffnungen zerstört worden,
weil gute Keime in ungeeignetem Boden wuchsen und nach schwäch¬
licher Blüte abstarben. Immerhin möchten wir noch nicht mit denen
übereinstimmen, die schon von einem „Bankerott“ sprechen. Etwas
von einem Bankerott ist ja in der Ueberbrettelei gegeben. Aber
das geht, näher besehen, doch nur eine kleinere Anzahl von Personen
an, die vielleicht mit zu viel Geräusch in den Vordergrund gestellt
worden sind. Es wird doch noch etwas Ernstliches gearbeitet in
der deutschen Literatur, ganz ist sie doch nicht der „Tändelkunst“
verfallen. Das zeigt der in praktischem Sinne sogar ganz bedenklich
in
umfangreiche Roman von Felix Holländer, bei S. Fischer
Berlin veröffentlicht, „Der Weg des Thomas Truck“. Es ist
einer der die Berliner Literatur kennzeichnenden Entwicklungs¬
romane, die Geschichte eines jungen Mannes, der sich zu einer
persönlichen Weltanschauung durchkämpft. Wir treten auch wieder
in Bohemekreise und der Kampf spielt sich wieder nicht im eigent¬
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1901.— Nr. 822.
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H. Nijgh & van Ditmar. Wien M. Dukes, 1 Wollzeile 6—8; H. Goldschmiedt,
1 Wollzeile 6,
lichen breiten Leben ab, sondern es ist der Kampf des Studenten
der erst etwas werden soll. Grundsätzlich haben wir keine sonder
liche Freude an solchen Romanen, weil sie einen zu engen Aus
schnitt der bürgerlichen Gesellschaft behandeln, einen Ausschnitt, der
zu berlinisch und in Berlin selbst zu eng ist, um die starke Wirkung au¬
weitere Kreise zu üben, die wir grade der Erzählungskunst wünschen
Holländer steckt eben auch zu tief im Literatentum, und sein Buch, an dem
er acht Jahre gearbeitet hat, dürfte etwas wie eine Selbstbefreiung
bedeuten. Aber er steckt nicht in jenem faden Decadententum, e
hat nicht die moderne Künstlerpose, wie andere, sondern er komm
in seinem Buche zu recht ernstgemeinten Aeußerungen der moder
nen Menschenseele. In wohlhabenden, aber dabei sehr traurigen
Familienverhältnissen entwickelt sich Thomas Trück zu einer
Jungen von eigentümlichem, in Wahrheitsfanatismus wurzeln
dem Charakter, der für die Zukunft eine kraftvolle Heldenfigung
etwas von einem Uebermenschen erwarten läßt. Dabei umfächelt
seine sonst traurige Jugend ein Hauch zartester Romantik in denz
Gestalten der zarten, früh erlöschenden Mutter und eines kleinen
Bäschens, der selbst hochbegabten Tochter eines Geigenkünstlers.
Es lebt Poesie, Empfindsamkeit. gut künstlerischer Art in dieser
Schilderung der Jugend des Helden, die uns sofort für das Buch
einnimmt und bedeutende Erwartungen erweckt. Nun kommt der
Held nach Berlin und, wie er selbst, so wird das Buch von des
Gedankens Blässe angekränkelt. Für Holländer beginnt jetzt wohl
die Hauptsache des Schaffenswillens. Es ist ja alles auch sehr
interessant, gibt charakteristischen Einblick in gewisse Lebenskreise.
Aber wie steht es dabei mit dem Kunstwerk? Truck vergißt das
Bäschen und gerät in die Liebesbande einer eleganten Dame, die
ihn aber schließlich dadurch enttäuscht, daß sie ihr luxuriöses Leben
nicht aufgeben will, um ganz ihm anzugehören. Vor allem aber
gerät er in ein aus ganz verschiedenartigen männlichen und weib¬
lichen Erscheinungen des Geistesproletariats zusammengesetztes
Conventikel, das „Nachtlicht“. Dort wird eine neue Zukunft vor¬
bereitet erst mit Reden, dann mit Gründung einer Zeitschrift der
„Festsaal“. Stirner und Dühring, zu geringem Teil Nietzsche,
sind zunächst die Propheten dieses Kreises, der im Socialis¬
mus nur eine neue Art Sklaverei sieht, und die höchste
Entfaltung der freien Persönlichkeit anstrebt. Es wird da sehr
viel geredet und debattirt, mehr als uns für den Roman als Kunst¬
werk gut scheint. Glücklicherweise bringt Holländer in diese Atmo¬
sphäre philosophischer Theorie doch auch noch etwas von dichterischer
Gestaltung in mehrern eigenartigen Charakteren, aus denen sich die
Figur eines Malermodells mit besonders eigenartiger Psychologie
heraushebt. Daß dabei der vorher kraftvoll tapfere Truck sich mehr
und mehr nervösen Zuständen nähert, gefällt uns weniger. Aus
Mitgefühl schließt er eine Ehe mit einem dem tiefsten Großstadt¬
elend verfallenen Mädchen, und er erträgt es mit heroischer Ge¬
duld, daß es sich als unverbesserliche Alkoholistin entpuppt. Es
befreit ihn bewußter Weise durch Selbstmord und er hat offenen
Weg zur Jugendgeliebten, die eine berühmte Geigenkünstlerin ge¬
worden ist. Inzwischen hat er sich zur Ueberwindung aller materia¬
listischen Denkweisen zu der Erkenntnis eines religiösen Gefühls durch¬
gerungen, das ein dogmenfreies Christentum sein soll, ein Erkennen
des Ichs als Teil des Alls und eines All=Ichs mit grenzenloser
Liebe. In diesen letzten Stadien des Romans, in den Beziehungen
zur unglücklichen Alkoholistin einerseits und denen zur Jugendgelieb¬
ten anderseits kommen wieder große dichterische Schönheiten, tief¬
empfundene Einblicke in die menschliche Seele zu bedeutsamer Geltung.
Aber konnte die schwere Last philosophischer Erörterungen nicht
erleichtert werden, ist sie künstlerisch überhaupt statthaft?
Ist der
Roman die richtige Ausdrucksform für Entwicklungsgänge abstracten
Denkens? Haben diese Ideen origineller Conventikel eine wirkliche
Zeitbedeutung allgemeinen Umfanges oder sind sie nur Sectirereien,
die als Blasen einer geistigen Gärung der Weltstadtjugend und eben
nur bei dieser aufsteigen, ohne im großen nationalen Leben eine ernstliche
Rolle zu spielen? Das sind die Fragen, die ein Kritiker aufwerfen
nuß, der die Wirkung des Buches über literarische Kreise hinaus
berechnen will. Uns hat es lebhaft angeregt, wir haben uns über
die Entwicklung des Helden gefreut und wir haben neben der