I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 32

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11. Frau Bertha Garlan

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wirtin dagegen, die den leichtsinnigen Mann mit dem Kinde der in der Ferne
gestorbenen Geliebten ohne Vorwurf zu sich nimmt, macht sich durch diese einzige
Handlung und allein mit dem letzten Satze zur Heldin der Geschichte. Gottfried Keller
hätte ihr Bild wahrscheinlich breiter ausgeführt und in ihrem einsamen, tapferen
Warten, in ihrer kühlen Tüchtigkeit ein schönes Motiv gefunden. Auch der
unaufdringlich pädagogische Zug von Emil Strauß erinnert an Meister Gottfried
aber er hat nicht dieselbe Gewichtigkeit wie bei dem Züricher Staatsschreiber, der
solche Erzählungen von leichtfertigen Auswanderern aus seinem republikanischen,
bürgerlichen Sinn herausgeschrieben hat als ein besorgter, warnender pater
patriae, der sich über solche Menschen ärgern und weidlich schimpfen konnte.
Der dumme Trotz des Bauern gegen die überkommenen Einrichtungen ist ja recht
anschaulich gemacht, aber sie ist eben nur die Geschichte des Engelwirts, sie ent¬
behrt einer höheren typischen Bedeutung, sie besagt uns nichts Rechtes über des
Dichters schwäbische Heimat. An indiidueller Psychologie fehlt es ihr nicht,
wachsenen Menschen, von denen das Schicksal des Einzelnen uns immer nur ein
anekdotisches Interesse abgewinnen kann.
Gleichfalls in dieser Zeitschrift ist der erste Roman von Arthur Schnitzler
„Frau Bertha Garlan“*) erschienen. Den Lesern steht das Schicksal der
Frau, wenn es eins ist, noch in frischer Erinnerung: sie pflegt das Grab ihres
braven, seligen Mannes, sie erzieht ihren kleinen Jungen, giebt in der Provinzial¬
stadt Klavierstunden, lächelt geduldig zu den Witzen des Schwagers, und das
alles mit einer passiven Gleichmütigkeit, in der selbst die Sehnsucht ihrer Jugend
verstummt ist. Nur manchmal ganz leise stehen die Erinnerungen wie unein¬
gelöste Versprechungen des Lebens auf, sie wundert sich dann, daß sie sich dem
Jugendgeliebten versagen konnte und Jahre lang in den Armen eines ungeliebten
Mannes lag. Jetzt erst, nach spätem Aufwachen, giebt sie sich ihrem Emil hin,
der ein berühmter Virtuose geworden ist, und nachdem dieser ihre Hingabe als
angenehmes Abenteuer unter vielen anderen freundlich angenommen hat, fällt
sie aus kurzer Empörung und Beschämung wieder in das schläfrige Einerlei
ihres Wittwendaseins zurück. Schnitzler behandelt ein sexuelles Problem. Die
Frau erniedrigt sich, die der Wollust opfert, ohne ein Kind zu wünschen. Wie
in seinen Novellen und Dialogen bewährt der Dichter auch hier eine subtile,
psychologische Kleinkunst, die scharfäugig und feinhörig die Menschen in ihren
geheimsten, uneingestandensten Regungen überrascht, aber er giebt nicht mehr
als er uns schon früher gegeben hat, und da alles auf eine größere Fläche ver¬
teilt ist, so fügen sich die einzelnen Pünktchen dieses psychologischen Poinrillismus
vor unserem Blick nicht immer zu einem vollen, illusionskräftigen Bilde zus
sammen. Schnitzler hat wohl selbst gefühlt, daß die Analyse dieser einen Figur
den Band nicht recht erfüllte, und er hat zur stärkeren Bedeckung der Fläche
das Schicksal einer anderen Frau allmählich immer stärker herausgearbeitet, das
uns mit seinem Rest von Unaufgeklärtheit schließlich mehr anzieht als die
Schicksalslosigkeit der Bertha Garlan. Die Erfindung ist bequem und banal,
nicht aus Not, sondern aus Absicht. Aber ist es ihm früher gelungen, die
Banalität des Lebens durch eine anreizende Würze sentimentaler Frivolität amü¬
sant zu machen, so hat er sie hier nur mit elegischer Gleichmütigkeit aus¬
gefüttert. Wie auch die dumpfe Monotonie des Alltags ohne Langeweile dar¬
gestellt werden kann, das hat, abgesehen von der vorbildlichen „Madame Bovary“,
Herman Bang in seinem Roman „Am Wege“ gezeigt, in dem die Leute nichts
thun als aufstehn, zu Bett gehen, Kaffee kochen und Blumen begießen. Das
*) Berlin. S. Fischer. 1901