I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 33

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11. Frau Bertha Garlan
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erreicht man nicht allein mit angestrengten Auskultationen des seelischen Organis¬
mus, sondern durch ein liebevolles Sichversenken in die bescheidenen Niederungen
des Lebens, wo es um den Poeten so stille wird, daß man das Pochen auch
der zagsten Herzen vernimmt. Man kann sich diesen ersten Roman Schnitzlers
besser als eine epigrammatisch gebrungene Novelle vorstellen oder als einen von
seinen reizenden Dialogen, besonders wenn Emil, der Virtuose, seinem Freunde
Anatol das galante Abenteuer von seinem Standpunkt aus mit etwas Frivolität
und nicht ohne etwas Sentimentalität erzählt hätte.
Wenn Schnitzler das Weibchen ausschließlich sub specie sexus betrachtet
und die physiologischen Zusammenhänge seines Instinktlebens herzustellen sucht,
so spricht Lou Andreas=Salomé in „Ma“*) als Frau von der Frau,
von der leidenden Schwester, sie zeichnet das Porträt einer kleinen Heldin, die
ihre letzten Wünsche und Begierden mit tapferer Hand auf dem Altar der
Mutterschaft opfert. In den letzten Büchern dieser zeistvollen Verfasserin war
mir eine unruhig springende, neugierige, fast unbehagliche Kombinationslust auf¬
gefallen, diese Erzählung, die von einer höchst suggestiven Schilderung des alten,
heiligen Moskau eingerahmt ist, atmet wieder eine wohlige Ruhe und Behaglich¬
keit, die Frucht liebevoller Versenkung und Beschränkung. War dem männlichen
Verfasser das Schicksal der Wittwe nur wichtig, weil er es beschreibt, als Para¬
digma, so schwärmt die Verfasserin für ihre Frau von vierzig Jahren und sie
zwingt uns, für die kleine Heldin ein wenig mitzuschwärmen. Frau Lou=Andreas
ist eine ungemein anregende Seelensucherin; wenn sie die Prämissen ihres Pro¬
blems fein und vorsichtig gestellt hat, spannt sie uns durch die Frage, ob sie
das Richtige treffen wird, und ob wir ihr werden zustimmen können. Auch
hier läßt sie uns nicht ohne Zweifel; wir können uns den Ausgang der Sache
auch anders vorstellen und eine eigene Conclusio gegen die ihre ausspielen; da¬
für gehört sie zu den Wenigen, die uns überhaupt geistig beschäftigen, uns thätig
machen, zu einer Revue eigener Erinnetungen und Erfahrungen zwingen.
Sehr liebevoll, sehr anschaulich ist das Porträt dieser Mama ausgeführt, die
mit einem geliebten Manne das reinste Glück erfahren hat und jetzt nur noch
für die beiden großen Töchter lebt. Sie ist arglos, sorglos, von ernster Heiter¬
keit, sie hängt an dem anspruckslosen Schmuck, an den kleinen, stillen Festlich¬
keiten des Lebens, eine Schöne, Bute, freudig Hilfsbereite, die nur lebt, soweit
sie liebt und sich hingiebt. Dennoch drohen die Kinder, sich von ihr loszulösen,
die natürliche Grausamkeit der jungen Generation nimmt ihre Hingabe nur an,
wenn sie bequem bleibt und keine Gegenopfer fordert. Die Welt sagt ihr, daß
man sich niemals ganz hingeben soll, nicht einmal an das gepriesene Mutter¬
glück und Vertrauen, Dankbarkeit, Anlehnungsbedürfnis ziehen sie zu dem ein¬
zigen erprobten Freunde, einem russischen Arzte. Schließlich siegt die Mutter
in ihr, weil sie erkennt, daß die Kinder sich nie so weit von ihr entfernen
können, wie sie selbst durch die Begründung eines neuen r ihnen unab¬
hängigen Glückes. Die Beziehungen der Frau zu den Töchte. vie zu dem
Freunde sind mit reizvoller Intimität geschildert, in dieser leisen Erzählung ist
etwas Trauliches, Einschmeichelndes, sie wäre sogar weichlich und süß ohne den
Esprit dieser fein spürenden Psychologin. Ihr Seelenbericht ist für mich auf
jeder Seite überzeugend bis zur vorletzten, weil die Aureole über dem Porträt
dieser Mater Dolorosa zwar schön leuchtet, aber unserer Irdischkeit etwas wider¬
spricht. Der Schluß würde mich ganz für sich haben, wenn nicht allein die
aufopfernde Mutterschaft dem neuen Bunde entgegenstände, sondern die lebendige
Erinnerung an das alte Glück, an den einen Rausch, der nicht wiederkehrt, schon
*) Stuttgart. J. G. Cotta Nachf. 1901.
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Neue Deutsche Rundschau (XII).