I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 34

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Frau Bertha Garlan
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weil man sich erinnern und vergleichen muß, weil man dasselbe Wort nicht
zweimal mit derselben Wahrheit sagen kann.
In ungleich schlechtere Gesellschaft führt uns Carry Brachvogel mit
ihrem Münchener Theater=Roman „Die große Pagode“.*) Wir lesen da,
wie eine aus der Provinz zugereiste, noch recht ungeschliffene und ungeschickte
Schauspielerin ## den Mannern ausgebeutet wird, bis sie allmählich aus ihrem
Geschlechte Kapital schlagen lernt. Der Divon eines Direktors wird zur Basis
ihrer Karriere. Daneben lesen wir von ihrer Freundin, einer Operettendiva, die
sich aus dem Fenster stürzt, weil ihr philiströser Verlobter sich nicht zur Ehe
mit ihr entschließen kann. Einige Jorrnalisten und einige Dichterinnen haben
sich des hier verwerteten tragischen Ausgangs von Juliane Dery mit großem
Eifer angenommen, die einen, um etwas Schmutz zu verspritzen, die anderen,
um sich einen so brillanten vom Leben gelieferten Romanstoff nicht entgehen zu
lassen. Doch sprechen wir nicht davon, es wäre sonst Gelegenheit, gegen die
Herren grob und gegen die Damen unhöflich zu werden. Die recht lebhafte,
sogar schreiende Schilderung, die Carry Brachvogel vom Theaterleben und den
zugehörigen Kreisen entwirft, kann ein tieferes Interesse nicht beanspruchen. Daß
da viel geklatscht wird hat man uns oft gesagt; daß vor der Kunst das Ge¬
schäft und hinter ihr die Prostitution steht, wissen wir leider auch. Wenn dieses
Mädchen es begreift und die erworbene Schlauheit ausnutzt, so können wir ihr
nur dazu gratulieren, aber was geht uns ihr Fortkommen an? Daß sie es
zur Hofschauspielerin bringen würde, wenn wir erst alle Cochonnerieen, deren
Theaterdirektoren, Drematiker, Kritiker und Kollegen fähig sind, kennen gelernt
haben, davon waren wir auch von vornherein überzeugt. Man konnte die
Individualität der Hauptfigur vertiefen oder die Sittenschilderung durch eine
gerechte Studie der dem Theaterleben eigentümlichen Bedingungen erhöhen;
beides hat die Verfasserin nicht gethan.
Da ziehe ich die wackere „Mine“ vor in Clara Viebig's außer¬
ordentlich tüchtigen, umsichtig angelegten und sauber ausgeführten Roman „Das
tägliche Brod“.**) Mine kommt aus ihrem Dorfe nach Berlin, um ihr
Brod als Dienstmädchen zu verdienen. Es geht ihr schlecht in der neuen ver¬
wirrenden Umgebung, ein Kind bekommt sie natürlich auch, aber allmählich
schlauer geworden zwingt sie den Vater durch ihre Resolutheit, sie zu heiraten,
sie bringt Beide durch mit ihrer robusten Kraft und endet schließlich als Portiers¬
frau. Da wird sie nun finden, was sie wünscht und was wir ihr gönnen, das
tägliche Brod, eine saubere Wohnung und vielleicht am Sonntag einen Spazier¬
gang mit Mann und Kindern nach Wilmersdorf. Es ist eine respektable Leistung,
daß wir dieser einfachen in zwei Bänden ausgesponnenen Geschichte ohne einen
Augenblick der Ermüdung folgen können. Mit gerader menschlicher Einsicht,
mit bewundernswerter Lebenskenntnis führt uns Frau Viebig in die äußere
und innere Verfassung der sogenannte. Landpomeranzen hinein, die in der
großen Stadt hülflos hin und her gestoßen werden, in dem neuen Boden Wurzel
schlagen oder im Schlamme umkommen. Geradezu glänzend ist die als Centrum
des Ganzen gesetzte Schilderung eines Berliner Grünkramkellers mit dem traurigen
Modergeruch, der feuchten Kälte und Dunkelheit, in der auch die Menschen
faulig werden, der allmählich erblindende Vater, die schlaue verschwindelte Mutter
mit ihrem Lieblingssohn, den sie nebst siebenhundert Mark von ihrem Doktor
mit in die Ehe bekommen hat, die größere Tochter, die in die Prostitution
fällt, die kleinere, die noch bei den unanständigen Couplets ist, und die arme
Berlin. S. Fischer. 1901.
) BBerlin. F. Fontane u. Co. 1901.