I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 36

11. Frau Bertha Garlan
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Beilage zur Allgemeinen Zeitung.
Nr. 217,
ziehen, ohne fähig zu sein, sie nur halb zu begreifen; sie
ihrer souveränen Sinnlichkeit, die sich aus mädchenhafter
wird nach Berlin versetzt, dessen Großstadttreiben sie
Sinnigkeit rasch entwickelt hat, und in ihrer überlegenen
ebensowenig versteht wie die Strecken seiner Pferdebahnen
Ruhe der Welt gegenüber bekundet. Mit diesem einen
und die Passagen über seine Plätze. Redlich ist ihr Be¬
Erlebnisse kehrt sie nach Hause zurück, kalte Phrasen, die
mühen, Gattin des Mannes zu werden, dem sie angehört;
der Mann auf ihre feurigen Briefe erwidert und unver¬
aber zur Ehe fehlt ihr die Fähigkeit, Ruhe ertragen zu
schämte Anträge erfüllen sie mit Ekel vor ihm, und an
können, die erste Vorbedingung, ihrer würdig zu sein, wie
der Leiche einer Freundin, die nur zügellose Lust gesucht
ie selbst sagt, unbestimmte Sehnsucht beherrscht sie, der
hat, ahnt sie „das ungeheure Unrecht in der Welt, daß
sie oft brüsken, heftigen Ausdruck gibt. So können die
die Sehnsucht nach Wonne ebenso in die Frau gelegt
Beiden nicht zusammenkommen, ein Dritter, ein berühmter
ward als in den Mann: daß es bei den Frauen Sünde
Maler, der sie schon durch seine Bilder erobert hatte, ge¬
wird, Sühne fordert, wenn die Sehnsucht nach Wonne
winnt sie in einer Nacht, über deren Begebnisse sie einen
nicht Sehnsucht nach dem Kinde ist" Mit unendlicher
zarten Schleier zieht; nach einem qualvollen Nebeneinander,
Sorgfalt werden die feinsten psychischen Regungen in der
das ihrem offenen Geständnisse folgt, gibt der Mann sie
Seele der Heldin klar gelegt, fast könnte man sie etwas
rei, sie findet erst in ihrem Kinde ihre Zukunft wieder,
überinterpretirt finden, wogegen ihre Folie, die Frau
nachdem sie sich sogar von dem Geliebten innerlich wie
Rupius, wenig Farbe erhalten hat und stark im Dunkel
äußerlich geschieden. So klingt das Werk ganz aus wie
bleibt. Aber jedenfalls bedeutet der Roman einen großen,
der Roman Wassermanns, während es in seiner sorg¬
künstlerischen Fortschritt, den ich vor allem darin sehe,
samen Selbstanalyse, die in der gewählten Form des Tage¬
daß der Dichter bei aller Objektivität der Darstellung
buches die beste Stätte findet, mehr an Schnitzlers Dichtung
viel mehr Wärme und Herz als bisher offenbart.
gemahnt. Aber daß es eine Frau, und zwar eine fein¬
Gerade diese Eigenschaften lassen sich der großen
fühlige Frau, geschrieben hat, merkt man schon an einem:
Studies) Jakob Wassermanns „Die Geschichte der
an der Zartheit und Diskretion des Ausdrucks und der
jungen Renate Fuchs“ nicht nachrühmen. Gibt Schnitzler
Empfindung, während Schnitzler gelegentlich ein brutales
aus dem Dasein einer Frau eine Episode, die ihr zum
Wort nicht scheut, und an den immer vom Gefühl diktirten
Leben wird so schildert der letztgenannte Dichter das
Aussprüchen, die bei Wassermann immer mit starker Re¬
Leben einer Frau, das sich aus lauter Episoden zusammen¬
flexion versetzt sind. Der erste Theil ist das Beste, was
setzt. Hat Schnitzler energisch konzentrirt, kann sich Wasser¬
die Verfasserin bisher gegeben: Jedes der Worte Ellens
mann nicht genug thun an Gestalten von Frauen und
wirkt durch seine Echtheit und Offenheit, sie begegnet sich
Männern, die Alle übermäßig gestikuliren, sich bei jedem
ganz mit den citirten Worten der Frau Key, wenn sie
Zuge charakteristisch geberden. So zeigt das ganze Buch ein
ragt: „Sind wir hysterisch, ist es da nicht einzig und
nervöses, rappliges Wesen, das sich nur selten festhalten
allein richtig, wir äußern uns auch hysterisch?“ Mit dem
läßt, sich theatralisch gibt wie die meisten der vorgeführten
Eintritt des geliebten Malers verflacht sich die Geschichte:
Menschen, die fast Alle in Aphorismen und Sentenzen
da kommt die Verfasserin nicht über den Genietypus
sprechen. Von künstlerischer Ruhe oder Abgeklärtheit ist
hinaus, und manchmal drängt sich die Tendenz stark vor.
keine Spur; der Stil ist verschroben, bilderüberladen:
Doch diese Bedenken sollen die Freude an der schönen
aber greift man einzelne der Stationen, die das Mädchen
Leistung nicht stören.
aus guter Familie von ihrem ersten Fehltritte ab bis zu
Einen tiefen Abfall nicht nur gegen diese besprochenen
ihrem Tode durchwandert, heraus, so stannt man über
Werke sondern auch gegen das, was die Verfasserin früher
das Talent, das sich da an scharfen Beobachtungen, schlag¬
geschrieben, bezeichnet die „Eva Sehring“ von Hans
fertigen Bemerkungen, wie sie nur ein kluger Kunstver¬
von Kahlenberg. 5) Enthüllt eine Frau einmal die
stand findet, offenbart. Unbefriedigt zieht Renate mit
sinnlichen Regungen ihres Geschlechts dann kann ein
einem Manne hinaus in die Welt; was sie sucht, ist
Mann an Deutlichkeit schwer mit ihr wetteifern. Das be¬
eigentlich nichts neues: sie will den Geliebten, und sie
weist diese an der Grenze der Karikatur stehende Dar¬
bleibt unbefriedigt, weil sie ihn in keiner Form des
stellung der Schicksale eines Mädchens, das sich in Paris
Mannes, die ihr begegnet, findet; die Lehre, die ihr ge¬
mit einem todkranken Maler ekstatisch zerrrttet, nachdem
geben wird: „Zu wählen verstehen, das ist alles im Leben“
schon ihre Jugend bedenkliche Vorzeichen einer krankhaften
hat sie nie zu befolgen verstanden. So steigt sie herab
Lüsternheit vorangeschickt. Eine potenzirte Marie Janitschek
in soziale Tiefen, sie wird sogar zur Variété=Sängerin
in ihrer rohen Phantasie, ein erneuerter Peter Altenberg
und Fabrikarbeiterin, ohne in irgend ein Milien sich zu
in dem manierirten sprunghaften Stile — so muthet die
vertiefen, bis ihr der ganz unklar gezeichnete, sterbende
Verfasserin an, für die zu gelten scheint, was sie selbst
weise Agathon eine recht sentimental und schwülstig zum
von ihrer Heldin sagt: „Sie suchte aufreizendere Stoffe,
Ausdruck gebrachte Liebe schenkt und sie in seinem und
Linien, die schrien, Farben, die zerschmetterten. Das Ein¬
ihrem Kinde die wahre Bestimmung ihrer Zukunft sieht.
fache erschreckte sie wie Milch den überreizten Gaumen.
So endet dieses ganze Aufgebot von Irrungen und Wir¬
Noch trauriger berührt es, wenn die Dichterin, die
rungen mit dem wohlbewährten Mittel für unbefriedigte
uns die „Wiedergeborenen“ geschenkt, Carry Brach¬
Frauen, daß man sich fragt: Wozu der Lärm? Es glitzert
vogel, heute mit einem kolportegemäßig anmuthenden
und schimmert an allen Ecken dieses Buches: aber wohl
Romane „Die große Pagode“ 6) in die Oeffentlichkeit tritt. In
will einem dabei nicht werden.
ast gemeiner, siandalsüchtiger Weise wird die Entwicklungs¬
Den zwei Männerromanen reiht sich die gleiche
geschichte einer kleinen Schauspielerin mit manchem Klatsch
Zahl von Frauenromanen an, die das Schicksal ihres
und mit Sensationsmacherei erzählt. Mit dem Studium der
Geschlechtes studiren. Gabriele Renter wählt schon
Frau, das die vier obenerwähnten Dichtungen pflogen,
den Namen ihrer Heldin bedeutungsvoll: „Ellen von der
hat dieses Produkt nichts zu thun.
Weiden“.4 „Es klingt wie eine alte Romanze“ heißt es
Aber auch die Seele eines Mannes, die heutzutage die
einmal von ihm. Und aus einer Romanze ist sie selbst
Dichter viel weniger zu interessiren scheint, hat ihren
niedergestiegen, eine neue Melusine, in den Wäldern und
Interpreten gefunden in J. H. Mackay und seinem
an den frischen Quellen des Harzes aufgewachsen, dem
merkwürdigen Buche „Der Schwimmer“. Die Geschichte
Wasser verwandt, in das sie so gerne taucht, durch die
einer Leidenschaft"?) „Meiner geliebten Kunst — des
Vielbeweglichkeit ihres Charakters und ihrer Stimmungen,
Schwimmens“ lautet die Widmung. Menschen mag es
ein Kobold in ihren Launen, voll Widerspruch, nur Eins
sonderbar, fast komisch berühren, von Hymne zu Hymne
in der Selbstbehauptung ihrer Individualitat. Und sie
auf eine gewöhnlich nur als Fertigkeit betrachtete Leibes¬
wird die Frau des Dr. Erdmannsdörffer, des braven
übung zu wandern, Mancher mag sich bei den scheinbaren
Arztes, der Korrektheit mit Philisirosität vereint und es
liebt, mit väterlicher Würde sein kleines Weibchen zu er¬
5) Ebenda.
6) Ebenda.
3) Ebenda.
) Ebenda.
4) Ebenda.