I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 39

11. Frau Bertha Garlan
box 2/1

576
Heinrich
Hart:
Eine stärkere, ausgeprägte Eigenart verrät sie
zustellen, als einzigartige Blüten neuer Mensch¬
nirgends,
lichkeit. Liliput=Revolutionäre von dieser Art
Moderner in geistiger Hinsicht mutet die
laufen in der Großstadt zu hunderten herum,
Erzählung „Inkorrekt“ (Dresden, C. Reißner
nur nehmen sie sich nicht immer so nett und
von Emma Böhmer an. Frau Bertha Garlau
lieblich aus wie Grete Dernwitz. Daß die Ver¬
könnte ihrer ganzen Denk= und Empfindungsweise
asserin jedoch auch feiner und objektiver zu charak¬
nach ebensowohl im XVIII. Jahrhundert geleb
terisieren versteht, das bezeugt die ebenso lebens¬
haben, wie im XIX.; Grete Dernwitz aber ist
voll wie intim gezeichnete Gestalt der alten
sicherlich ein Kind unserer Zeit; eine Maid wie
Excellenz
sie war früher vielleicht schon möglich als Einzel¬
Anspruchsveller als dieses Märlein von der
erscheinung, aber einen Typus bildet sie erst
in
nkorrekten Grete gibt sich Ottomar Enkings
der unmittelbaren Gegenwart. Emma Böhmer
Roman „Die Ikariden“ (Dresden, C. Reißner).
erzählt von zwei Schwestern, Töchtern aus gutem
Gleich der Titel nimmt sich ein bissel hoffärtig
Hause; Vater Dernwitz ist Excellenz. Auguste, die
aus; es gehört Mut dazu, das harmlose Pärchen,
ältere, entwickelt sich zur Freude der Eltern zu
das im Mittelpunkt der Erzählung steht, ob seines
einer Dame, die an Korrektheit und Weltgewandt¬
bescheidenen Ehrgeizes zum Geschlecht des Sonnen
heit nichts zu wünschen übrig läßt. Innerlich
fliegers Ikarus zu zählen. So hoch strebt es denn
hohl und leer, ein bißchen moralisch angefault
doch mit seinen wächsernen Flügeln nicht, um von
gibt sie sich doch nach außen hin stets als ein
der Sonne gefährdet zu werden. Lene Rittner,
weibliches Musterwesen. All ihr Sinnen und
gebürtig aus Groß=Queeren, wohnhaft zu Wettorp
Trachten geht auf eine gute, standesgemäße
in Schleswig=Holstein, wirkt und strebt als wackre
Heirat, und die erreicht sie denn auch schließlick
Volksschullehrerin. Ein ebenso hübsches wie ener¬
mit „Geschick und Schläue“. Im Gegensatz zu
gisches Mädchen sucht sie frühzeitig eine Position
ihr benimmt sich das jüngere Töchterlein von
im Leben zu gewinnen, die über das was sie
früh auf so inkorrekt wie möglich. Ihr Sinn
nach Geburt, Beruf und sonstigen Verhältnissen
für die Anforderungen der guten Gesellschaft, für
zu erwarten hat, hinausgeht. Da jedoch ihre
die Pflichten einer höheren Tochter ist äußerst
eignen Fähigkeiten nicht ausreichen, sie höher
mangelhaft entwickelt. Statt sich zu einem ge¬
hinaufzuführen, sucht sie, wenn auch mehr unbe¬
sellschaftlichen Normalwesen zu entfalten, strebt
wußt, als bewußt ihr Ziel durch Anschluß an
sie danach, ein Individuum für sich zu werden
irgenbeine Männlichkeit zu erreichen. Ihre ersten
das geistig wie im Empfinden seine eignen Wege
Beziehungen aber zu einem Manne bringen ihr
gehen will. Eine Nora en miniature, die denn
eine bittere Enttäuschung. Der Oberlehrer Lent¬
auch einen echt Ibsenschen Wahrheitsfanatismu¬
rodt, den sie als Ideal verehrt, d u sie ihr jung¬
entwickelt. Freilich nicht in allen Stücken. Zu
räuliches Herz zu Füßenegt, ist sehr geneigt,
jeder ihrer Thaten sich offen zu bekennen, dazu
ein süßes Verhältnis mit ihr zu unterhalten, aber
hat sie denn doch nicht den Mut; man kann das
ich ehelich zu fesseln, verspürt er nicht die geringste
dem jungen Dinge auch kaum verdenken. Heim
ust. Er geht eines Tages auf und davon, um
lich schriftstellert sie für eine Zeitschrift, die aller
als journalistischer Wortführer à la Harden, Nau¬
lei unheimliche, moderne Tendenzen vertritt, und
mann, Göhre eine Rolle auf der politischen Bühne
heimlich verlobt sie sich eines Tages mit dem
zu spielen. Leue Ritter trägt bitter Leid um ihn,
Redakteur besagter Zeitschrift. Dann aber wird
aver sie ist keine Natur, die am gebeochenen Her¬
Grete des Verstecksspiels müde. Tapfer entschließt
zen stirbt. Wenn es der eine nicht ist, so ist's
sie sich, von ihrer Liebe Zeugnis abzulegen vor
der andere. Lene findet Ersatz in dem jungen
versammelter Familie. In grausamer Weise aber
Pastor loci, er heiratet sie nicht, er wird von ihr
kommt ihr das Schicksal mit der Enthüllung zu¬
geheiratet. Inzwischen hat sich Lene mit moder¬
vor. Der geliebte Redakteur hat das Unglück,
ner Weisheit erfüllt; sie liest fleißig in den Schrif¬
an demselben Morgen, wo er mit Grete vor Ex¬
ten des entwichenen Lentrodt und eignet sich seine
cellenz Dernwitz hintreten will, unter die Räder
Meinungen und Ideen rückhaltslos an.
der elektrischen Straßenbahn zu geraten. Er und
wie sie ist, fühlt sie sich aber keineswegs als
mit ihm Gretes Liebesglück wird zermalmt. Ihre
Schülerin, sondern sie meint, all die Weisheit
Heimlichkeiten kommen an den Tag, statt Mitleid
durch eigenes Denken und Sinnen erworben zu
jedoch und Tröstung findet sie bei ihren Ange¬
haben. Dieses Bewußtsein kräftigt ihren Ehr¬
hörigen nur Vorwurf, Groll und Bitterkeit. Eine
geiz; sie hält es für ihre Aufgabe, gemeinsam
Zeit lang erträgt die Armste alle Quälerei mit
mit ihrem Gatten ebenfalls eine Rolle in der
resignierter Geduld. Schließlich aber wird es ihr
Offentlichkeit zu spielen, wie der große Lentrodt.
zu viel, sie entflieht dem Elternhaus und wendet
Ihr Gatte aber ist alles andere als ein Kirchen¬
sich nach Zürich, um dort zum modernen Voll¬
licht; sein ganzes Wesen ist aufs Korrekte ge¬
menschen auszureifen ... Die Verfasserin erzählt
stimmt, er glaubt, was vorgeschrieben ist, erstirbt
frisch und lebendig; ihre Darstellung ist licht und
in Demut vor aller Obrigkeit, und sein Ehrgeiz
klar, in allen Linien überaus einfach und prunk¬
bewegt sich in den allerbescheidensten Grenzen.
los. Ihre Schwärmerei aber für das Moderne
Aber da er auch ein korrekter Ehemann ist,
so
hat etwas hold Naives. Wie sie den Gegensatz
macht schließlich Frau Leue mit ihm, was sie will.
zwischen den Schwestern ausmalt, auf der einen
Sie ruckt und reißt an ihm, bis er widerstands¬
Seite lauter Licht, auf der andern lauter Schatten,
müde in den Weg einlenk., den sie ihm vorge¬
das mutet ein wenig märchenhaft an. Unt
zeichnet hat. Er verfällt freisinnigen Anwand¬
ebenso wundersam der Eifer, die kleine Grete und
lungen, er lernt sich als etwas Besonderes fühlen,
ihren Redakteur als etwas ganz Besonderes hin¬
er kämpft, wenn auch zaghaft, gegen die „gott¬