I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 48

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11. Frau Bertha Garlan




Gestalt, die eigentlich nur ins Psychologische gearbeitet
ist, doch sehr gegenständlich, greifbar wird. Hier freut
man sich der Kunst Schnitzlers, der das gelingt, trotz
seines ausgesprochen analytischen Vefahrens, während
da bei Bourget z. B. die Gestalten nur zu leicht zer¬
flattern. Schnitzler sieht seine Heldin ganz sub
specie sexualitatis. Das gibt ihrer Gestoltung das
einigende Band, hält sie zusammen, sodaß nan, wenn
auch Strich neben Siich gesetzt wird, doch diese Frau
als ein Ganzes empfindet. Schnitzler besitzt etwas von
der Spürkraft Stendhals, nur daß dieser fester zu¬
griff, tiefer sah. Auch hat Schnitzler eine viel weichere
Hand und im Blick stets ein ganz leises Lächeln, wohin
er auch dringen mag. Die Geschichte der Frau Bertha
Garlan ist sehr einfach. Wie die meisten guten Ge¬
schichten. Die Heldin hat früh ihren Mann verloren,
den sie geheirathet hat, wie man halt heirathet. Jeden¬
falls ist es ihm nicht gelungen, ihre Seele, ihre Sinne
zu wecken. So lebt sie denn nach seinem Tode vor sich
hin, ihren Buben an der Hand, halb wie im Traum.
Ab und zu aber, an einem besonders schönen Tag oder
so, wird sie ein wenig unruhig, reibt sich verwundert die
Augen: „Mein Cott, was ist das! Das ist doch kein
eben!“ Es dauert aben nicht lange, bald sinkt sie wieder
den alten, traumhaften Zustand zurück. Bis sie eines
Tugs mit dem Jugendfreund wieder in Beziehung
kommt. Da wird sie wach, und nun entfalten sich
Seele und Sinne. Langsam, Schritt für Schritt zeigt
Schnitzler das, und er zeigt es meisterhaft. Dem
Jugendgeliebten, der Künstler ist, bedeutet Frau Bertha
nur eine ganz kleine Episode unter den vielen derartigen
Episoden seines Lebens. Frau Bertha sieht das bald,
entsetzt, unglücklich und weint. Dann kehrt sie in ihr
altes Leben, in die alte Enge zurück. Unter ihrer Mono¬
konie beruhigen sich bald wieder Seele und Sinne. Sie
lebt aufs Neue vor sich hin ihren Buben an der Hand,
halb im Traum. Wenn sie nach langen Jahren als
alte Frau sterben wird, und alt werden solche Frauen,
wird sie in ihrem ganzen langen Leben nur einmal,
wenige Wochen nur. wach gewesen sein an Seele und
Sinnen.
Schade ist es, daß auch hier wieder der entscheidende
Mann ein Künstlerist. Es wird nämlich nachgerade
etwas viel, diese ewigen Künstler in allen Büchern. Von
unsern fünf warten alle außer dem ersten irgendwie
mi Künstlern auf. Und wenn sie meist auch nicht im
Mittelpunkt stehen, so siehen sie doch immer, immer
wieder da. Das ist kein günstines Zeichen für die
Güte unserer Literatur. Das Wort Jean Pauls ent¬
hält doch viel Wahrheit: „Dichtende Jünglinge suchen
sich gern einen Dichter oder Maler oder andern Künstler
zum Helden aus, weil sie in dessen weitem, alle Dar¬
stellungen umfassenden Künitlerbusen und Künstler¬
ihr eigenes Herz. jede eigene Absicht und
raum Alles,
kunstgerecht niederlegen können; sie liefern
Empfindung
daher lieber einen Dichter als ein Gedicht.“
box 2/1
Wiener Brief.
In einem psychologischen Zeitalter leben wir. Nie zuvor haben
die Leute so lebhaftes Interesse dem eigenen Innenleben abge¬
wonnen und dem ihres Nächsten. Viel und vielerlei ward geleistet
in diesem Zeitalier der Entdeckungen, nicht zuletzt der psychologischen
Entdeckungen. Man denke nur einmal, wie schleierlos, wie unver¬
hüllt, wie aufgeklärt und räthselleer die Frauenpsyche vor uns liegt.
Herr Redakteur, hüten Sie sich, aus norddeutschem Neidgefühl
heraus das Folgende zu streichen. Wem verrankt Ihr glücklichen
Jetztlinge, wie ich das Fremdwort „Moderne“ passend übersetze,
all diese Aufschlüsse? Uns! Niemand Anderem als uns, dem
litterarischen „Jung=Wien“. Das süße Mädel haben wir bsycho¬
logisch secirt, und jetzt hat Euch Arthur Schnitzler, unser
inclusive
Arthur, zum Ueberfluß die Wittwenseele enthürkt... Aber nicht
Porto.
von „Frau Bertha Garlan“, dem neuesten Roman Schsitzlers, will
Zahlbar
ich sprechen; sondern ich beabsichtige, die Aufmerksamkeit der berufs=im
Voraus.
mäßigen Litteratur=Psychologen auf ein jungfräuliches, ein noch
te ist das
unbeackertes Stoffgebiet zu lenken. Ich habe mir schon vor langer
cht es den
Zeit und wahrlich oft genug den Kopf darüber zerbrochen: Was
rn.
geht in der Seele eines Volksvertreters vor, der bei seiner Wieder¬
wahl eben nicht wiedergewählt wird. Is muß ein wahrer Jammer
thaltend die
sein, ein merkwürdiges Gemisch von Ingrimm und Neid, von lyrises¬
Morgen¬
wehmuthsvollem Gedenken früherer, besserer Tage und von ver¬
er Zeitung“)
tliche, Leben
zweifelnd knirschender
*. Ich dachte weiters: Die Frau
littheilungen
habt Ihr moderne Die
nehin schon psychisch überwunden,
Keinem von uns Allen
##die Frau mehr eine Räthselnuß zu
knacken geben. Entsaget
##m abgedroschenen Thema und wendet
Euch lieber dankbareren
en zu, wie dasjenige, von dem ich
921
eben gesprochen habe.
hat diese Woche der Zufall der
Wiener Lokalchronik in das verdüsterte Gemüth eines Exparla¬
mentariers hineingeleuchtet. Das ist der Hofrath Kareis. Der
Mann war früher Volksvertreter und vertrat das Volk mit be¬
tüchtigten Stiefelreden. Und als die Neuwahlen kamen, da ging
es ihm wie einem vertretenen, einem ausgetretenen Stiefel. In
den Zeitungen las man, in dem Hause des Herrn Hofrath hätte
eine Deputation der anderen die Thürklinke gereicht. Diese De¬
putationen hätten gebeten, gefleht, gejammert und geweint:
„O Kareis, vertrete uns weiter! Was sind wir Unglückseligen ohne
Kareis?“ Aber Kareis, der Hofrath, blieb unerbittlich. Triplex
aes circa pectus! Er war gerührt ob der Liebe des Volkes, ob
der Anhänglichkeit der Wählerschaft; aber sein Entschluß, der stand
felsenfest. Er nehme kein Mandat mehr an, denn seine Gesundheit
ei
erschüttert.
„ „ *
Der Mann mit der erschütterten Gesundheit stand diese Woche
vor dem Strafrichter, weil er, augenscheinlich unter Zusammen¬
nehmung seiner letzten Kräfte, einem seiner geliebten Mitbürger im
Caféhaus eine Ohrfeige versetzt hatte, die nicht von schlechten Eltern
war. Und dabei drückte er sich, ohne dazu mehr berechtigt zu sein,
ganz parlamentarisch aus, denn er sprach die geflügelten Worte:
„Hundling! Schurke!“ In der Gerichtsverhandlung aber erzählte
er dem Richter, daß jener geohrfeigte Mitbürger seine Wiederwahl
bintertrieben, ihn dazu gezwungen hätte, auf seine Gesundheit
Rücksicht zu nehmen. ...
Ungelöst blieb allerdings das Räthsel
der Kareis beschwörenden Deputationen. Die Ohrfeige aber wurde
mit 400 Kronen Geldstrafe bewerthet.