Garlan
11. Frau Bertha
*
„
Nachdruck
Der neue Schnitzler. vrdien
Wien, 15. Juni.
A-
* Wollte man die Stimmen zählen und nicht
wägen, so wäre Arthur Schnitzlers „Oeuvre“ ohne
Bedeutung. Noch hat keiner seiner Novellenbände
die steile Höhe der dritten Auflage erklommen; in
Frankreich beginnt man ja erst beim dreißigsten
Tausend von einem Autor zu reden. Aber in Sachen
der Kultur entscheidek keine Stimmenmehr¬
heit, vox populi ist auch hier nicht vox dei. Es
gibt eine kleine und feine Gemeinde, die heute weiß,
daß dieser stille und weltfremde Dichter nicht nur
ein Versprecher, sondern uch ein Erfüller ist, daß
ihm eine Schärfe und Sicherheit der Beobachtung
eigen ist, die jetzt in deutschen Landen von keinem
Anderen erreicht wird, daß er unter den verschiede¬
nen Talenten, die dem Wiener Sumpfboden ent¬
sprossen sind, das einzige ist, das seinen Platz in der
Literaturgeschichte nicht nur vorgemerkt hat, son¬
dern auch bereits besetzt hält. Für diesen Kreis,
der sich langsam und sicher erweitert, sind neue
Werke Schnitzlers das, was Künstlerwerke jedem
Erzogenen zu sein haben: Erlebnisse, nach denen
man sich bereichert fühlt. Der fleißige Dichter hat
einen Getreuen in den letzten Monaten zweimal
so starke Freude bereitet. Dem italienischen Re¬
naissancedrama „Der Schleier der Beatrice" folgte
eine größere Novelle, die Schnitzler als Roman
falsch meldet, die Seelenphotographie der Frau
Bertha Garlan.
Es geht scheinbar sehr wenig vor auf diesen 256
Seiten. Die „Handlung“ hätte sich mühelos in eine
kurze Skizze fassen lassen. Wenn man unter einem
„guten Erzähler" Den versteht, der äußere Gescheh¬
nisse geschickt zu gruppiren weiß und ein Menschen¬
chicksal wie eine Schachpartie betrachtet, die durch
verblüffende und geistreiche Züge immer zu einem
anderen und stets überraschenden Ende gebracht
werden kann, dann ist Schnitzler kein Erzähler.
Aber dieses Buch bietet Besseres als das mathemat¬
ische Spiel mit Figuren, gerade weil Entwicklung
und Ausgang den Eindruck jener strengen Noth¬
wendigkeit machen, den man im Leben immer suchen
muß, wenn es überhaupt einen Sinn haben soll.
Ja, außerlich ereignet sich in dem Roman fast nichts.
Und dennoch ist er so voll von Geschehnissen, daß
box 2/1
ihre Wiedergabe dem Berichtenden fast unmöglich
vird. Aber es sind Thatsachen der Seele. Der
Romancier der alten Zeit, die hierin unserem Em¬
pfinden nach gewiß nicht die gute war, brauchte
anonyme Briefe, lange Reden, Duelle, Wunden.
Hier sehen wir den Kampf einer Frau um die Liebe
eines Mannes, der sich ganz ohne Nebenbuhlerin¬
nen, Verrath und Selbstmord ereignet. Ein Dichter
der zugleich Arzt ist, beschreibt uns die Krankheits¬
geschichte einer Seele. Die örtlichen Voraussetz¬
ungen der Krankheit, ihr Ausbruch, die Krisis und
die Heilung werden uns mit einer genauen Ge¬
wissenhaftigkeit geschildert, die in ihrer Ausführ¬
lichkeit manchmal beinahe mehr wissenschaftlich wie
künstlerisch ist.
Frau Bertha Garlan lebt mit ihrem kleinen
Buben in einer niederösterreichischen Provinzstadt.
Sie ist wenig über dreißig Jahre alt und Wittwe.
Ihr Mann war ein stiller, bescheidener und guter
Mensch, der sie heiratete, da mit dem Tode ihrer
Eltern die Noth an sie heranzutreten drohte. Er
wvar nicht jung, schien ihr auch nie jung und Ziebe
ür ihn war nie in ihr aufgeblüht. Sie hatte sich
Leuchtenderes erhofft; als Klaviervirtuosin — viel¬
eicht auch als Gattin eines großen Künstlers
durch die Welt zu ziehen. Die Gelegenheit schien
da; ein junger Geiger, Emil Lindbach, liebte sie und
ie ihn. Nur einen einzigen Kuß hatte sie dem Be¬
gehrlichen gewährt; zu fest lebte in ihr die bürger¬
liche Sittenstrenge. Aber die Noth hatte alle ihre
Hoffnungen zerstört und heute scheint ihr der
Jugendgeliebte, der als berühmter Virtuose alle
Länder durchfliegt, in einer anderen Welt zu weilen.
Sie fristet von ihrem Wittwengute und Klavier¬
tunden bei verwandten und befceundeten Familien
ich und ihrem Söhnchen das bescheidene Leben.
Aber eine leise Unzufriedenheit zernagt ihre Ruhe.
„Seit Beginn dieses Frühlings fühlte sie sich
veniger behaglich als bisher; sie schlief nicht mehr so
ruhig und traumlos als früher, sie hatte zuweilen
eine Empfindung der Langeweile, die sie nie ge¬
kannt, und das Sonderbarste war eine plötzliche
Ermattung, die sie manchmal bei helllichtem Tage
überkam, in der sie das Kreisen des Blutes in ihrem
ganzen Körper zu verspüren meinte, und die sie an
eine ganz frühe Epoche ihrer Mädchenzeit er¬
innerte.“ So macht sie, nach neuen und lebhaften
Eindrücken lüsterner, als sie es selbst weiß, mit einer
nach der Entlassung aus dem urnden Lii¬
litärdienste:
das Generalkommando des Gardekorps;
bekannten Dame einen Ausflug nach Wien, trotz¬
dem von diesen Ausflügen der Frau Rupius selt¬
ame Gerüchte durch die klatschsüchtige Stadt
liegen. Das großstädtische Leben weckt die in ihr
eimenden Wünsche und Hoffnungen, die sie längst
verdorrt glaubte. Auch lockt der Freundin gefähr¬
liches Beispiel. Sie schreibt, ohne an alle mog¬
lichen Folgen denken zu wollen, dem Jugendfreunde
inen Gratulationsbrief; Emil Lindbach antwortet
freundschaftlich und sofort. Sie kommt nach Wien,
in dem Museum treffen sie sich, sie verbringen den
lbend zusammen und der sieggewohnte Künstler
führt die arme Frau, in der alle verpaßten Be¬
gierden, alle ungewährte Liebe ihres Lebens plötz¬
lich ausbrechen, mit sich. Ihre bisherige Tugend
cheint der von ihrer Liebe ganz Berauschten träge
und feige; versunken ist ihre Wohlanständigkeit;
eine Gattin, oder, geht es nicht anders, seine Ge¬
liebte will sie sein. Aber der genußsüchtige Lebens¬
lüstling denkt nicht daran, sich mit solcher Bürde zu
beladen; sie war ihm Genußobjekt, eine vorüber¬
gehende, angenehme Zerstreuung, weiter nichts.
Sie muß das erkennen im selben Augenblick, da
Frau Rupius an dem Versuche stirbt, der Welt die
Folgen ihres verbotenen Glückes zu verdecken, und
auch in ihr die furchtbare Angst vor solcher Strafe,
solchem Kinderfluche, erwacht ist. „Plötzlich flim¬
mert es ihr vor den Augen, eine wohlbekannte,
plötzliche Schwäche kam über sie, ein Schwindel,
der sich gleich verlor. Zuerst bebte sie leise, dann
aber athmete sie tief und wie erlöst auf, denn mit
dem Hereinbrechen dieser Ermastung fühlte sie ja
auch, daß in diesem Augenblick nicht nur ihre Be¬
fürchtungen von früher, sondern der ganze Wahn
dieser wirren Tage, die letzten Schauer einer ver¬
langenden Weiblichkeit, Alles, was sie für Liebe ge¬
halten, in nichts zu verströmen begannen. Und an
diesem Todtenbette kniend, wußte sie, daß sie nicht
von Denen war, die, mit leichtem Sinne beschenkt,
die Freuden des Lebens ohne Zagen trinken können.
Und während sie die blasse Stirn der
Todten betrachtete, mußte sie an den Unbekannten
denken, für den sie hatte sterben müssen, und der
straflos und wohl auch reuelos draußen in der
großen Stadt herumgehen und weiterleben durfte,
wie ein Anderer auch . .. nein, wie tausend und
tausend Andere, die neulich ihr Kleid gestreift und
sie begehrlich angestarrt hatten. Und sie ahnte das
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Nachdruck
Der neue Schnitzler. vrdien
Wien, 15. Juni.
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* Wollte man die Stimmen zählen und nicht
wägen, so wäre Arthur Schnitzlers „Oeuvre“ ohne
Bedeutung. Noch hat keiner seiner Novellenbände
die steile Höhe der dritten Auflage erklommen; in
Frankreich beginnt man ja erst beim dreißigsten
Tausend von einem Autor zu reden. Aber in Sachen
der Kultur entscheidek keine Stimmenmehr¬
heit, vox populi ist auch hier nicht vox dei. Es
gibt eine kleine und feine Gemeinde, die heute weiß,
daß dieser stille und weltfremde Dichter nicht nur
ein Versprecher, sondern uch ein Erfüller ist, daß
ihm eine Schärfe und Sicherheit der Beobachtung
eigen ist, die jetzt in deutschen Landen von keinem
Anderen erreicht wird, daß er unter den verschiede¬
nen Talenten, die dem Wiener Sumpfboden ent¬
sprossen sind, das einzige ist, das seinen Platz in der
Literaturgeschichte nicht nur vorgemerkt hat, son¬
dern auch bereits besetzt hält. Für diesen Kreis,
der sich langsam und sicher erweitert, sind neue
Werke Schnitzlers das, was Künstlerwerke jedem
Erzogenen zu sein haben: Erlebnisse, nach denen
man sich bereichert fühlt. Der fleißige Dichter hat
einen Getreuen in den letzten Monaten zweimal
so starke Freude bereitet. Dem italienischen Re¬
naissancedrama „Der Schleier der Beatrice" folgte
eine größere Novelle, die Schnitzler als Roman
falsch meldet, die Seelenphotographie der Frau
Bertha Garlan.
Es geht scheinbar sehr wenig vor auf diesen 256
Seiten. Die „Handlung“ hätte sich mühelos in eine
kurze Skizze fassen lassen. Wenn man unter einem
„guten Erzähler" Den versteht, der äußere Gescheh¬
nisse geschickt zu gruppiren weiß und ein Menschen¬
chicksal wie eine Schachpartie betrachtet, die durch
verblüffende und geistreiche Züge immer zu einem
anderen und stets überraschenden Ende gebracht
werden kann, dann ist Schnitzler kein Erzähler.
Aber dieses Buch bietet Besseres als das mathemat¬
ische Spiel mit Figuren, gerade weil Entwicklung
und Ausgang den Eindruck jener strengen Noth¬
wendigkeit machen, den man im Leben immer suchen
muß, wenn es überhaupt einen Sinn haben soll.
Ja, außerlich ereignet sich in dem Roman fast nichts.
Und dennoch ist er so voll von Geschehnissen, daß
box 2/1
ihre Wiedergabe dem Berichtenden fast unmöglich
vird. Aber es sind Thatsachen der Seele. Der
Romancier der alten Zeit, die hierin unserem Em¬
pfinden nach gewiß nicht die gute war, brauchte
anonyme Briefe, lange Reden, Duelle, Wunden.
Hier sehen wir den Kampf einer Frau um die Liebe
eines Mannes, der sich ganz ohne Nebenbuhlerin¬
nen, Verrath und Selbstmord ereignet. Ein Dichter
der zugleich Arzt ist, beschreibt uns die Krankheits¬
geschichte einer Seele. Die örtlichen Voraussetz¬
ungen der Krankheit, ihr Ausbruch, die Krisis und
die Heilung werden uns mit einer genauen Ge¬
wissenhaftigkeit geschildert, die in ihrer Ausführ¬
lichkeit manchmal beinahe mehr wissenschaftlich wie
künstlerisch ist.
Frau Bertha Garlan lebt mit ihrem kleinen
Buben in einer niederösterreichischen Provinzstadt.
Sie ist wenig über dreißig Jahre alt und Wittwe.
Ihr Mann war ein stiller, bescheidener und guter
Mensch, der sie heiratete, da mit dem Tode ihrer
Eltern die Noth an sie heranzutreten drohte. Er
wvar nicht jung, schien ihr auch nie jung und Ziebe
ür ihn war nie in ihr aufgeblüht. Sie hatte sich
Leuchtenderes erhofft; als Klaviervirtuosin — viel¬
eicht auch als Gattin eines großen Künstlers
durch die Welt zu ziehen. Die Gelegenheit schien
da; ein junger Geiger, Emil Lindbach, liebte sie und
ie ihn. Nur einen einzigen Kuß hatte sie dem Be¬
gehrlichen gewährt; zu fest lebte in ihr die bürger¬
liche Sittenstrenge. Aber die Noth hatte alle ihre
Hoffnungen zerstört und heute scheint ihr der
Jugendgeliebte, der als berühmter Virtuose alle
Länder durchfliegt, in einer anderen Welt zu weilen.
Sie fristet von ihrem Wittwengute und Klavier¬
tunden bei verwandten und befceundeten Familien
ich und ihrem Söhnchen das bescheidene Leben.
Aber eine leise Unzufriedenheit zernagt ihre Ruhe.
„Seit Beginn dieses Frühlings fühlte sie sich
veniger behaglich als bisher; sie schlief nicht mehr so
ruhig und traumlos als früher, sie hatte zuweilen
eine Empfindung der Langeweile, die sie nie ge¬
kannt, und das Sonderbarste war eine plötzliche
Ermattung, die sie manchmal bei helllichtem Tage
überkam, in der sie das Kreisen des Blutes in ihrem
ganzen Körper zu verspüren meinte, und die sie an
eine ganz frühe Epoche ihrer Mädchenzeit er¬
innerte.“ So macht sie, nach neuen und lebhaften
Eindrücken lüsterner, als sie es selbst weiß, mit einer
nach der Entlassung aus dem urnden Lii¬
litärdienste:
das Generalkommando des Gardekorps;
bekannten Dame einen Ausflug nach Wien, trotz¬
dem von diesen Ausflügen der Frau Rupius selt¬
ame Gerüchte durch die klatschsüchtige Stadt
liegen. Das großstädtische Leben weckt die in ihr
eimenden Wünsche und Hoffnungen, die sie längst
verdorrt glaubte. Auch lockt der Freundin gefähr¬
liches Beispiel. Sie schreibt, ohne an alle mog¬
lichen Folgen denken zu wollen, dem Jugendfreunde
inen Gratulationsbrief; Emil Lindbach antwortet
freundschaftlich und sofort. Sie kommt nach Wien,
in dem Museum treffen sie sich, sie verbringen den
lbend zusammen und der sieggewohnte Künstler
führt die arme Frau, in der alle verpaßten Be¬
gierden, alle ungewährte Liebe ihres Lebens plötz¬
lich ausbrechen, mit sich. Ihre bisherige Tugend
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und feige; versunken ist ihre Wohlanständigkeit;
eine Gattin, oder, geht es nicht anders, seine Ge¬
liebte will sie sein. Aber der genußsüchtige Lebens¬
lüstling denkt nicht daran, sich mit solcher Bürde zu
beladen; sie war ihm Genußobjekt, eine vorüber¬
gehende, angenehme Zerstreuung, weiter nichts.
Sie muß das erkennen im selben Augenblick, da
Frau Rupius an dem Versuche stirbt, der Welt die
Folgen ihres verbotenen Glückes zu verdecken, und
auch in ihr die furchtbare Angst vor solcher Strafe,
solchem Kinderfluche, erwacht ist. „Plötzlich flim¬
mert es ihr vor den Augen, eine wohlbekannte,
plötzliche Schwäche kam über sie, ein Schwindel,
der sich gleich verlor. Zuerst bebte sie leise, dann
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dem Hereinbrechen dieser Ermastung fühlte sie ja
auch, daß in diesem Augenblick nicht nur ihre Be¬
fürchtungen von früher, sondern der ganze Wahn
dieser wirren Tage, die letzten Schauer einer ver¬
langenden Weiblichkeit, Alles, was sie für Liebe ge¬
halten, in nichts zu verströmen begannen. Und an
diesem Todtenbette kniend, wußte sie, daß sie nicht
von Denen war, die, mit leichtem Sinne beschenkt,
die Freuden des Lebens ohne Zagen trinken können.
Und während sie die blasse Stirn der
Todten betrachtete, mußte sie an den Unbekannten
denken, für den sie hatte sterben müssen, und der
straflos und wohl auch reuelos draußen in der
großen Stadt herumgehen und weiterleben durfte,
wie ein Anderer auch . .. nein, wie tausend und
tausend Andere, die neulich ihr Kleid gestreift und
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