I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 64

11. Frau Bertha Garlan
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gequält so oft in der besten Absicht, gelitten so oft, weil das
Dichtung hier zwei Städte berühren, die räumlich und inhalt¬
Wort der Befreiung den Weg vom Herzen auf die Lippen nicht
lich weit getrennt von einander sind — Paris und Wien.
finden kann. — Besonders lehrreich und von tiefer sittlicher
Die Lyriker und Epiker der Seinestadt stehen ihren
Bedeutung sind daher neben dem Vorzugsschüler, die beiden
Kollegen an der Donau näher, als diese ihren Kollegen an der
Novellen: „Die Reisegefährten“ und „Maslans Frau“;
Spres. — Vielleicht trägt eine ältere und verfeinerte Kultur
die erstere, weil der Arzt in dieser Geschichte unumwunden die
auf dem Gebiete des Lebensgenusses auch zu diesem Umstande
Ansicht ausspricht, daß Menschen nicht Opfer von Menschen
in Wien das ihrige bei. — Der Pariser Charme entspricht hier
werden sollen und dürfen, die letztere, weil in ihr längst ver¬
der Wienerischen Grazie, das Kunstwerk gilt hier mehr als
büßte und im innersten vergebene Schuld weiter wirkt bis aus
solches, weniger als Vermittler irgend einer sittlichen oder
Ende, weil weder Gläubiger noch Schuldner — und auf sitt¬
politischen Tendenz als im Norden, und der Volksboden, auf
lichem Gebiete ist man immer beides — das lösende Wort finden
dem Strauß und Offenbach gedeihen konnten, ist sich in seiner
kann. —
Nur der himmlische Schmerz des Mitleids drängt
Humusbeschaffenheit ähnlicher als der, auf dem man den
in allen Fällen das lösende Wort auf die Lippen und wenn
Gassenhauer: „Vom Grunewald“ sang. — Seitdem sich Her¬
dieser Schmerz den Sieg davongetragen, wie in der Seele der
mann Bahr, der Verwandlungskünstler der modernen Dich¬
Ebner, wenn der verrohte Provi um einen Tropfen Milch für
tung, an die Spitze der Wiener Schule stellte und in seiner
den verhungernden Hund bittet, dann bedeutet das „die Wendung
Person und seinen litterarischen Gründungen einen Mittelpunkt
in einem Menschenherzen und in einem Menschenschicksal“.“
für die Jungen an der schönen blauen Donau schuf, ist Wien
als Litteraturstadt wieder mehr in den Vordergrund getreten,
hat es wenigstens in den letzten Jahren den Versuch gemacht,
Frau Bertha Garlan¬
dem Berliner Litteraturmarkt die Spitze zu bieten. Ja, Eigen¬
artiges und nur aus österreichischem Boden zu Erzielendes
Wie tiefgreifend und bedeutungsvoll sind doch die Unter¬
haben uns die letzten Jahre in den Schöpfungen Peter
schiede der Welt und Lebensauffassung, die dem Leser aus den
Altenbergs, J. J. Davids, Hugo Salus', Felix
litterarischen Erscheinungen unserer Tage entgegentreten, zwischen
Dörmanns, um nur wenige zu nennen, gebracht. — Aber
den beiden Metropolen deutschen Lebens und deutscher Kunst,
ihr Ruf ist nicht weit über Wien hinausgedrungen. Bahr
zwischen Berlin und Wien. Berlin, die werdende, die auf¬
selber vermochte in Berlin keine bedeutenden Erfolge zu er¬
strebende Weltstadt, Wien, die vergehende, an dem großen
zielen und nur einer der jungen Wiener ist auch an Otto
Vermögen einer bedeutenden Vergangenheit zehrende, wie oft
Brahms strengem Deutschem Theater zu Ehren gekommen und
hat man das schon gesagt. „Aber mit diesem einen Schlagwort
ist von dem schlauen Hausherren des Theaters an der Berliner
von der Décadence der Kaiserstadt an der Donau ist doch der
Schumannstraße zum Hausdichter erhoben worden: Arthur
Unterschied zwischen süddeutschem und norddeutschem Wesen,
Schnitzler. Als den liebenswürdigsten Dramatiker lernten
zwischen Berliner und Wienerischer Natur in Kunst und Dich¬
wir ihn in der „Liebelei“, als einen geistvollen und virtuosen
tung noch lange nicht erklärt, noch lange nicht ausgeschöpft
Plauderer und einen Kenner der Frauen in seinem „Anatolcyclus“,
und begründet. — Eine rein äußere Erscheinung, und wäre sie
als einen ernsten Mann in „Freiwild“ und „das Vermächtnis“, als
für eine Stadt und ein Land noch so bedeutungsvoll, wird
einen, der viel kann, in dem „grünen Kakadu“ und als einen,
niemals dazu imstande sein, Dinge, die in dem innnersten Wesen
der viel will, in dem „Schleier der Beatrice“ kennen. Als Dra¬
eines Volkes ihren letzten Grund finden, zu erklären und ver¬
matiker hat er seinen Weg gemacht, und doch wollte es mir, da
ständlich zu machen. — Nicht das Hoffen und Pochen auf eine
ich vor Jahren seine Novelle „Sterben“ las, scheinen, als sei
noch größere Zukunft, nicht das schmerzvolle Sicherinnern al
auch Arthur Schnitzler, wie so mancher der Zeitgenossen, mehr
eine schönere Vergangenheit kann das Wesen der Berliner und
zum Novellisten als zum Dramatiker geboren. — Daß ich
Wiener Dichtung von heute und deren so bedeutungsvolle Ver¬
damals mit meinem Gefühle nicht so ganz unrecht hatte, zeigt
schiedenheiten zur Genüge erklären. Der Süddeutsche, der
mir heute sein neues Buch, das erste größere, erzählende Werk, das
Österreicher und vor allen Dingen der Wiener, besitzt eben ein
aus Arthur Schnitzlers Feder an die Oeffentlichkeit kommt. Einen
Etwas, eine Möglichkeit, weich und sauftmütig zu werden, mit
Roman nennt er das Buch, eine Novelle würde es seinem ganzen
Thränen in den Augen zu lächeln, die Schwächen seiner Mit¬
Inhalte nach besser heißen, wenn anders man daran festhalten
menschen und seine eigenen Schwächen in einer ganz besonderen
will, daß die Entwicklung eines Seelenlebens das Wesen der
Art und Weise schonend und voll Mitgefühl, voll Zartgefühl
Novelle, und das Vorführen einer Handlung das Wesen des
möchte ich geradezu sagen, zu behandeln, die dem Nieder¬
Romans ausmachen soll. — „Frau Bertha Garlan“ ist die
deutschen, die dem Berliner und dem im Berliner Milien sich
Heldin dieser Erzählung und nur um sie und um ihr Innenleben
entfaltenden Schriftsteller von Anfang an entweder fremd waren
allein dreht sich die ganze Geschichte, in deren Verlaufe alle
oder aber im Hasten und Treiben der preußischen Hauptstadt
Vorzüge des Menschen, Dichters und nicht zum wenigsten Arztes
fremd geworden sind. — Wohl ist der in Berlin wohnende,
Schnitzler bedeutend und anregend in die Erscheinung treten.
nicht notwendig der Berliner, von den Grenzen Rußlands kam
In Berlin wäre aus Frau Bertha Garlan wahrscheinlich
Sudermann, aus Schlesien Gerhart Hauptmann, und Leute
ein Tendenzroman geworden, in Wien ward das Buch unter
aus Böhmen und Ungarn, den Alpen und den Karpathen
Arthur Schnitzlers Händen das nicht. Nur ganz verstohlen
strömen in Wien zusammen. Aber das Eigentümliche des
am Schlusse, auf der allerletzten Seite seines neuen Buches
Berliners, sein scharfer Witz, sein nüchterner und klarer Ver¬
sagt uns Schnitzler mit klaren Worten, was er eigentlich mit
stand, sein Hang zu satirischer Betrachtung stecken den einen,
dieser Frau Bertha Garlan gewollt hat, sagt er uns das, was
das Eigentümliche des Wieners, sein leichter Sinn, seine leise
wir allerdings während des Lesens ahnend empfunden, ohne daß
Frivolität, sein sentimentales Wesen, seine Gemütlichkeit, sein
es uns ganz klar werden konnte, weil es Frau Garlan selber noch
Hang zur Lyrik, stecken den anderen an. So kam es und so
nicht ganz klar geworden ist und weil wir immer nur aus
mußte es kommen, daß sich die Dichtung der schroffen sozialen
ihrem Seelenleben heraus über alle inneren und äußeren Vor¬
Gegensätze unserer Tage im Norden, die der liebevollen Klein¬
gänge der Erzählung unterrichtet werden. Was Frau Garlan
malerei, die Vertiefung in psychische Zustände mit leisen Aus¬
am Schlusse ihrer Erlebnisse ahnt, das ist das, was Schnitzler
flügen ins Gebiet lyrischer Schwärmerei im Süden ausbilden
seinen Lesern nicht als etwas Neues, sondern nur als Etwas, das
mußte.
— Und merkwürdig ist und bleibt vor allen Dingen
nicht oft genug gesagt werden kann, wieder und wieder zu
die erstaunliche Tharsache, daß sich nicht nur auf dem Gebiete
agen hat, daß nämlich der Mann als egoistische Genußnatur
der Mode, sondern vor allen Dingen auch auf dem Gebiete der
der Liebe eines Weibes, das für seine Liebe seine ganze Person