I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 65

Bertha Garlan
11. Frau
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nereneeene
einsetzt und einsetzen muß, nur dann würdig sein kann, wenn
und Lösung bringt, indem es ihr nämlich einen Augenblick wird,
er wie die Frau dazu imstande ist, sein Ich an das Ich der
als hätte ihr ganzes Schicksal nur den einen Sinn gehabt, sie
Geliebten zu verlieren. Denn Frau Garlau ahnt das un¬
das Elend dieses Mannes ganz verstehen zu machen.
geheure Unrecht in dee Welt, daß die Sehnsucht nach Wonne
Moralisch im landläufigen Sinne ist die Geschichte Frau
ebenso in die Frau gelegt ward, als in den Mann, und daß
Garlaus nicht, aber menschlich ist sie, zu den Gebrechen gehörend,
es bei den Frauen Sünde wird und Sühne fordert, wenn die
die nach Goethes Meinung durch reine Menschlichkeit gesühnt
Sehnsucht nach Wonne nicht zugleich die Sehnsucht nach dem
werden können. —
Kinde ist. — Das ganze Gemälde des Seelenlebens einer
Frau von 30 Jahren, die ideal und künstlerisch veranlagt, als
junges Mädchen von 20 einem Musiker schwärmerische Ver¬
ehrung entgegenbrachte, die dann in eine Kleinstadt einem un¬
Gent, Kopennagen —
geliebten Manne in die Ehe folgte und nun als Witwe den
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockne.,
burg, Toronto.
Jugendgeliebten wiederfindet, sich ihm hingibt und einsehen muß,
(Quellenangabs ohne Gewähr.)
daß sie dem Manne nicht mehr war wie jede andere, die er an dem¬
selben Abend auf der Straße gefunden hätte, sie, deren Sehn¬
Ausschnitt änaher Börsen Courier, Berlin
sucht sich in all den Jahren nur auf diesen einen gerichtet,
Morgenausgabe
1“
das ist der Inhalt der Erzählung, die Arthur Schnitzler seinen
vom 2½

Freunden als neueste Gabe seines bedeutenden Talentes reicht.
Meisterhaft, ganz Kenner der Frauennatur, die er gewiß in
S. Fischers Bibliothek zeitgenössischer
einer Eigenschaft als Arzt zu studieren reichlich Gelegenheit
Romane bringt als letzte Novität, entsprechend ihren
gefunden, schafft er alle Vorbedingungen für den Zustand un¬
guten Gepflogenheiten, wieder einen berühmten Autor
befriedigter Sehnsucht, in den er seine Heldin bringt. Die ver¬
und ein beachtenswertes Werk: Die Novelle „Frau
lorene Jugend in Wien, das vergebliche Streben nach Ausbildung
Berta Garlan“ von ArtSu
ihrer musikalischen Talente, die dreijährige leidenschaftslose Ehe
Wenn jemals in Arthur Schnitzler der Arzt den
Dichter geleitet, so war es bei dieser Novelle „Frau
mit dem alternden Garlan, das Leben in der Kleinstadt, der
Berta Garlan“.
Und der Arzt, d. h. der Lebens¬
Tod des Mannes, ihr Zusammensein mit dem Ehepaar Rupius,
physiologe, der Lebenspathologe, ist auch der über¬
das eine Ehe führt, in der eine junge Frau einen gelähmten
wiegend Stärkere geblieben. Der dichtende Erzähler
Mann hintergeht, die Erscheinung eines cynischen Junggesellen, der
dessen, was dem Arzt vielleicht aus seiner Praxis
erwachsen, dem Beobachter in der Gesellschaft ent¬
der jungen Wittwe näher tritt, die Nähe von Wien, das wie eine
gegengetreten, weicht zuweilen so weit hinter Beiden
Sirene von Ferne lockt und lockt, alle diese Umstände wirken in Frau
zurück, daß er zum nüchtern registrierenden Chronikeur
Garlans Innerem zusammen, daß sie in unwiderstehlicher Sehn¬
wird. Selbst die psychologische Begründung der
sucht die Hand nach einem Glücke ausstreckt, von dem sie meinte,
physiologischen Regungen in der jungen Heldin, Berta
daß es einst in der Jugend schon beinahe einmal ihr eigen ge¬
Garlan, wird zu einem Exempel, mit leicht durch¬
wesen wäre, wenn sie es damals nicht aus mißverstandener
die
Konstruktion der Wahrscheinlichkeit in der Geschehnis¬
Tugend als unerfahrenes Mädchen von sich gewiesen hätte.
willkür des Lebens.
Der Jugendgeliebte ist ein berühmter Violinist geworden, sie
Da ist nämlich die jungverwittwete bildhübsche
liest von ihm in den Zeitungen, sie sieht sein Bild in der
Frau Berta, nach kurzer Ehe, ohne jede Glückerfüllung,
„Illustrierten“, und sie selber in all' der unbezwinglichen Sehn¬
ziemlich dürftigen Lebensumständen zurückgeblieben.
ucht der Frau, die nie geliebt worden, die ungeliebt und nicht
Rein und unverlangend. Das von aller Welt ver¬
liebend sich dem angetrauten Gatten aus Pflicht gab und sich
mutete, heimliche und widerrechtliche Glückgenießen
nun als Witwe frei fühlt, schreibt an ihn. — Sie vergißt, was
einer jungen, gleichschönen, stolzen, überlegenen
er alles in den 10 Jahren erlebte, da sie nichts besseres zu
Freundin, der Gattin eines unheilbar gelähmten, vor¬
thun wußte, als in ihrem engen Kreise seiner zu gedenken, und
nehmen Mannes, weckt in Frau Berta ziemlich jäh
das Gedächtnis an eine ungekrönte Jugendliebe zu
er nimmt die Ersüllung ihres höchsten Wunsches, das Glück,
einem jetzt lange schon berühmten Geiger.
von dem sie in Träumen der Sehnsucht lebte, hin als etwas
Mit diesem Gedächtnis erwacht in ihr das, nur
Selbstverständliches und Gleichgültiges, ihm dargebracht von
als unbelauschter Unterstrom in ihrem Blut
einer Frau, die es vielleicht gerade so gerne einem anderen ge¬
rauschende Weibverlangen nach dem „großen Glück¬
geben hätte, wie er es von jeder anderen entgegengenommen.
erleben“ nach „der höchsten Seligkeit“, die „nach den
Romanen der Dichter dem Weibe von dem geliebten
Das ist das Tragische in Frau Bertha Garlaus Schicksal und
Manne kommen soll.“ Einen sehr äußeren Zufall
zugleich das Befreiende, zugleich aber auch das Wienerische in
macht Frau Berta mit gar nicht sehr charakterlogischer
der Art und Weise, wie Arthur Schnitzler das Wesen seiner
Keckheit sich dienstbar, um sich dem Jugendgeliebten zu
Erzählung erfaßt. Kein äußerer Umstand wird die Folge von
nähern und bei der ersten Gelegenheit versäumtes
Frau Garlans Fehltritt, niemand erfährt etwas, niemand braucht
Jugendliebesglück in seinen Armen zu finden. Von
der praktischen Lebenswertung des verwöhnten Künst¬
sie zu verachten und niemand zu bedauern, nur an dem Schick¬
lers abgestoßen, auch in ihrem erwarteten posthumen
fal der ihr befreundeten Frau des gelähmten Mannes sieht sie
Glückrausch im Grunde und gründlich enttäuscht, kehrt
schaudernd, was hätte werden können, und wird durch das
Schicksal der anderen innerlich entfühnt und befreit. — Und
Frau Berta in ihre kleinstädtische Heimat und zu
auch dieses Schicksal der gefallenen Frau, die ein Verbrechen
ihrem sonnigen Buben, seelisch unbeschadet, zurück,
beging, um nicht Mutter zu werden, und an den Folgen des
während ihre überlegene, in allem auch radikalere
Verbrechens sterben muß, gewinnt in Schnitzlers Darstellung
Freundin mit ihrem jungen Leben ihr kurzes, illegales
Eheglück bezahlt.
den typischen Zug dieser versöhnlichen und meinetwegen allzu
toleranten Wienerischen Welt= und Lebensauffassung, denn der
Was auch sonst die stärkste Seite der dichterischen
Gestaltung Schnitzler“ ausmacht: die Fähigkeit,
gelähmte Mann dieser aus Sehnsucht nach Liebe zu Grunde
Charaktere plastisch gegeneinander zu stellen, Geschehnisse
gegangenen Frau sagte selbst zu Bertha Garlan: „Warum hat
aus dem Rahmen des ereignisarmen Alltags heraus¬
sie das gethan? Es war nicht notwendig. — Was gehen mich
zuheben, das Leben klar, die Menschen hell zu schauen,
die anderen Menschen an!“ — Und aus diesem Jammer des
das wird auch hier der bedeutsame Vorzug seiner
armen betrogenen und gelähmten Mannes erblüht auch Frau
Dichtung von der Verschiedenheit der Wirkungen
gleicher Ursachen und von dem gleichen Recht auf
Bertha Garlan eine neue Erkenntnis des Lebens, die ihr Trost
höchst ungleiche Glückmöglichkeit der Frauenphysis.
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