I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 66

11. Frau Bertha Garlan
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Roman
Artur Schnitzler: „Frau Berta Garlan.“ Roman. (Verlag
S. Fischer, Berlin. Mk. 1.—.) Frau Garlan ist das Kind armer
Leute; darum mußte sie es sich versagen, ihren Jugendge¬
liebten zu heiraten und folgte Herrn Garlan in die Ehe, der
sie nach einigen Jahren als Witwe in einem Provinznest
zurückließ. Entre deux ages erfaßt Frau Berta die Sehnsucht
nach der nie genossenen Liebe. Durch Zufall erfährt sie,
daß ihr einst Geliebter, jetzt ein berühmter Virtuose, in ihrer
Nähe in Wien weilt. Sie fährt zu ihm, wirft sich ihm an den
Hals. Nimm mich, ich bin dein! Und er — er besitzt sie
eine Nacht lang, ist bereit, ihr noch einige Nächte zu schenken
mehr nicht. In sein Leben soll sie nicht treten, soll nicht
an seiner Seite Ruhm und Glück genießen. Frau Garlan ist
bitter enttäuscht. Das Schicksal einer Freundin, die einen
Ehebruch, der Folgen hatte, mit dem Tod büßen muß, während
der Ehebrecher frei und straflos bleibt, bestärkt sie in ihrer
Uberzeugung von dem ungerecht ungleichen Los der Ge¬
schlechter. Sie entsagt endgültig und schwört den Männern
Haß und Verachtung. Soweit die Erzählung, die entzückend
ist in ihrer minutiösen Schilderung al Seelenstimmungen,
in der plastischen Ausarbeitung der Ch. aktere. Aber hat
Schnitzler, der große Sexualpsychologe, rech., wenn er nach
diesem Schema für die Frauen eine Lanze bricht? Diese Tendenz,
den Mann in seinen geschlechtlichen Beziehungen als odiosen
Egoisten hinzustellen, der wohl den Genuß begehrt, aber die
Selbsthingabe weigert, ist weit verbreitet. Wir wollen nicht
die Polemik ins allgemeine ziehen, sondern beim Fall Garlan
bleiben. Trägt hier nicht Frau Berta die richtige Strafe für
ihren früheren Liebesverrat? Und kann man verlangen, daß
ein Mann die Frau, die nach 15 Jahren unerwartet zu ihm
kommt und sich ihm anbietet, bereitwillig aufnimmt und
ihretwillen Beruf und liebgewordene Verbindungen in den
Hintergrund schiebt? In diesen 15 Jahren machte Frau Garlan
sich wenig Sorge darüber, ob er die alte Wunde verschmerzt
habe oder an ihr verblutet war. Eine späte Laune sollte
August 1912
A AAVE