I, Erzählende Schriften 11, Frau Bertha Garlan. Roman, Seite 74

11. Frau Bertha Garlan


digt die Erganzung auf 200 Franes, diese
handlung einzelner erotischer Volkssagen auf der athenischen
Bühne die lebhafte Aufmerksamkeit der Sammler auf den
hier noch zu hebenden Schatz volksthümlicher Poesie, umso
mehr, da die in eigener Productionskraft allmälig ermattete
Zeit in einem halb ästhetischen, halb culturhistorischen
Interesse sich der Betrachtung alterthümlicher und kindlicher
Zustände und Vorstellungen in der Verborgenheit des
eigenen und fremden Volkslebens überall mit Eifer zu
wendete. Bei solchen Nachforschungen entdeckte man nun
auch jene heimlich blühenden Blumen einer bis dahin von
der künstlich ausbildenden Dichtung wenig berührten Fülle
schöner Liebeslegenden, von deren Reichthum uns nun
plötzlich von allen Seiten zuströmende Beiträge über¬
zeugen.“ In diese habe man nun hineingegriffen, und indem
man das „Grundthema: die Schicksale eines Liebespaares“
mit der Lust an abenteuerlichen und ungewöhnlichen
Schilderungen verband, sei eben die neue Gattung des
Romans erst entstanden. „Zu irgend einer Zeit floß das
rotische Element hinüber in die ethnographisch¬
philosophische Idylle: aus der Verschmelzung dieser
disparaten Bestandtheile entstand der griechische Roman.
In dieser Verschmelzung gab die prosaische, ethnographische
Erzählung gewissermaßen den derberen, materiellen Körper
her, in welchen die Erotik, aus ihrer poetischen Höhe her¬
niedersteigend, als belebende Seele eintrat, dem für sich
allein Unbeweglichen Bewegung und Empfindung mit¬
theilend... Soweit sich überhaupt von einer inneren Ent¬
wicklung und Ausbildung der Kunstform des griechischen
Romans reden läßt, zeigt sich eine solche in dem wechselnden
Verhältniß, in welches sich, wetteifernd um die Ober¬
herrschaft, seine beiden Grundbestandtheile zu einander
stellen. Anfänglich überwiegt ganz unzweifelhaft das, aus
der Reisefabulistik übernommene, rein stoffliche Element
(Antonius Diogenes). Es tritt aber bald mit der ihm bei¬
gesellten Erotik in einen engeren, durch die rhetorische Dar¬
stellung vermittelten Bund (Jamblichus); es muß sich, bei
eliodor, gefallen lassen, zur Illustrirung eines tiefer
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Gehaltsadzug und er.
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liegenden Sinnes zu dienen; es wird, bei Xenophon von
Ephesus, seinex-felbständigen Bedeutung ganz entkleidet,
um einzig der erolischen Erzählung zum belebten Hinter¬
grunde zu dienen; es wird endlich, in dem Mosail
rhetorischer und polyhistorischer Studien, aus welchem
Achilles Tatius seinen Roman zusammensetzt, so gut wie
as erotische Element und das Allerlei der trödelhaften
Kenntnisse des Autors zum bloßen Stoff seiner geschmack¬
losen stylistischen Kunststücke herabgesetzt.“
Also: die Gattung des Romans entsteht überhaupt
erst durch die Verbindung zweier Elemente, des Erotischen
nit einer „abenteuerlichen Reisepoesie“. Der Roman ent¬
steht, um einen besonderen Fall der Liebe zu zeigen, aber
nicht für sich allein, abgelöst von der Welt, wie es die
erotische Legende gethan, sondern in möglichst starken Be¬
ziehungen auf das seltsame und bunte Treiben
der
Menschen. Die Darstellung einer erotischen Begebenheit
der Breite der sinnlichen Welt macht das Wesen
griechischen Romans aus. Und dabei ist es eigentlich immer
geblieben; nur daß die Autoren später ihr Paar nicht erst
in fremde Länder reisen lassen, sondern im eigenen das
Fremde und Seltsame zu finden wissen, das sie brauchen
um die Weite des Lebens auszudrücken, von welcher sich
der besondere Fall abheben soll. Ein Liebesfall und die
weite Welt — das sind die zwei Elemenie aller Romane,
die wir schließlich im „Wilhelm Meister“ und in den „Wahl¬
verwandtschaften“ wie in der „Manon“ und der „Madame
Bowary“ finden. Die Entwicklung hat nur gesucht, ihre Ver¬
bindung, die anfangs, nach Rhode, eine ganz mechanische
von zwei disparaten Theilen“ war, allmälig so zu ver¬
geistigen, daß sit eine organische wurde. Diese Forderung
die wir heute stellen, macht den einzigen Unterschied zwischen
em griechischen Roman und dem modernen aus. Das soll
iun gewiß nicht heißen, daß es uns verboten wäre, den
Roman abzuändern und einmal einen zu versuchen, in
welchem eines der beiden Elemente fehlt. Gattungen ändern
sich in der Entwicklung, und es wird manchmal gewünscht,
der alten Form einen neuen Inhalt zu geben. Aber dann
sage man: Wir wollen keine Romane mehr; oder man sage:
Wir wollen eine neue Form des Romans, ohne das
erotische Eiement, welches wir so oder so zu ersetzen gedenken.
Man schreie aber nicht über Entartung, wenn unsere
Autoren sich in ihren Romanen an das Erotische halten,
das immer ein Element des Romans gewesen ist. Sie
können sich darauf berufen, damit nur durchaus in der
guten Tradition zu sein.
Nun mag es ernst denkenden Menschen freilich seltsam
vorkommen, wie denn eine eigene Gattung blos zur Dar¬
tellung des Erotischen entwickelt und durch einige tausend
Jahre gepflegt werden konnte. Sie unterschätzen nämlich
wohl die Bedeutung, welche die Fälle der Liebe für den
Geist des Menschen haben. Es ist vielleicht kein Zufall, daß
s Gelehrte sind, die den griechischen Roman vorbereiten.
Es ist vielleicht dieselbe Leidenschaft, das Leben zu er¬
ennen, welche sie zugleich nach den Sitten fremder Länder
forschen und auf Erzählungen von der Liebe achten läßt.
Es scheint, daß das Erotische ein Mittel ist, sich des Sinnes
unseres Daseins zu bemächtigen.
Was auch als Wahrheit ober Fabel
In tausend Büchern dir erscheint,
Das Alles ist ein Thurm zu Babel,
Wenn es die Liebe nicht vereint —
damit drückt Goethe eine uralte Empfindung der
Menschheit aus. Er hat sie im „Wilhelm Meister“ einmal
och einfacher und noch inniger geschildert: „Als er aus
dem ersten Taumel der Freude erwachte und auf sein
Leben und seine Verhältnisse zurückblickte, erschien ihm
Alles neu, seine Pflichten heiliger, seine Liebhabereien leb¬
hafter, seine Kenntnisse deutlicher, seine Talente kräftiger,
eine Vorsätze entschiedener.“ Ganz ähnlich sagt Antipholus
in der „Komödie der Irrungen“:
Lehr' mich, Geliebte, prüfen, denken, sprechen;
Entfalte meinen irdisch groben Sinnen:
Wie mag ich, wahnumstrickt, bethört von Schwächen,
Den Inhalt deines dunkeln Worts gewinnen?
Bist du ein Gott? Willst du mich neu erschaffen?
Verwandle mich, dir folg' ich, schönes Bild!