I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 82

Gustl
10. Leutnant

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Ceylen, in Indien, und wo der „humane“ Feind
sie sonst noch untergebracht hat, wie in Abrahams
Schoß geborgen. Auch die hin und wieder von
den Gefangenen an hiesige Verwandte gesandten
Briese lassen ihre wahre Lage nicht erkennen. —
dafür sorgt schon die wohllöbliche Censur. Wieder¬
holt ist schon Einiges über die Behandlung, besser
gesagt Mißhandlung dieser Gefangenen in die
Oeffentlichkeit gedrungen — das wahrheitsbegeisterte
Jingo=Ministerium hat stets alles mit der gewohnten
Unverfrorenheit geleugnet. Es ist daher interessant,
über
ungeschminkte Wahrheit
die
inmal
das Leben der Gefangenen zu erfahren, wie sie ein
holländischer Burenofficier, dem es gelang, von
eberen Plafond. Dann geht es in sausendem
Fluge weiter — eine Luftfahrt, an die sich der
Bierphilister erst wird gewöhnen müssen. Aber
man gewöhnt sich schließlich au Alles. Als die
Stabtbahn begründet wurde, war ihre Benutzung
eine so geringfügige, daß man einen großen Krach
erwartete. Jetzt genügt sie den Verkehrsverhält¬
nissen kaum noch, so daß die Staatsbahn=Ver¬
waltung den Entschluß gefaßt hat, die Zugstärke
von neun Wagen auf vierzehn zu bringen. Um die
Zuglänge trotzdem nach Möglichkeit einzuschränken,
soll der Abstand zwischen den einzelnen Wagen
durch Einrichtung neuer Verbindungs= und Puffer¬
systeme verringert werden. Die Hebung der Ver¬
kehrs=Verhältnisse Berlins ist eine der dringendsten
Nothwendigkeiten für die riesenhaft anwachsende
Stadt. Pferdebahn und elektrische Straßenbahn
genügen in keiner Weise mehr; auch das Droschken¬
wesen bedürfte einer Reorganisation. Die Ein¬
führung der praktischen Taxameter het die gräßlichen
Droschken „zweiter Güte“ gottlob so in den Hinter¬
grund gedrängt, daß man hoffen kann, sie werden
bald ganz von der Bildfläche verschwinden. Die
Rutomobildroschken vermehren sich leider nur lang¬
sam. Das ist schade. Das Automobil ist zweisellos
das Gefährt der Zukunft. Wenn man bedenkt, wie
schwerfällig die ersten Motorwagen beschaffen waren,
welche Hindernisse sich ihrer praktischen Verwendung
und der allgemeinen Einführung entgegenstellten -
und nun sieht, wie sich die Systeme vervollkommnet
haben, so kann man wohl mit Sicherheit voraus¬
setzen, daß sich die Automobile auch im Verkehrs¬
Die
leben der Großstädte bewähren werden.
unangenehmste Eigenschaft der Selbstfahrer
noch immer das tosende Geräusch, das sie ver¬
ursachen; es macht selbst die sanftesten und nerhen¬
stärksten Gäule scheu. Diesem Uebelstande müßte
zunächst abgeholfen werden, und wie ich höre,
beabsichtigt der Vorstand des deutschen Automobil¬
Clubs, ein Preisausschreiben zu veranstalten, um
die Techniker anzufeuern, sich energischer der
Lösung dieses zweifellos sehr schwierigen Problems
zu widmen. Der deutsche Automobil=Club ist zwar
nur ein Sportunternehmen; aber auch seine Ver¬
dienste um die Allgemeinheit sind nicht zu ver¬
kennen. Der Präsident der Gesellschaft, Herzog
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von Natibor, und der Graf Talley, 5=Pörförd
sind die Doppelseele der Gesellschaft, und ihre
eifrigsten Förderer neben den beiden Secretairen,
Grafen Strachwit und Baron Molitor, die Herren
und Hauptmann Kübel.
General Becker
dem
gehören
Fürstlichkeiten
Zahlreiche
Club an, selbst exotische wie der Schah, der Mikad
und der König von Siam; weiter die Prinzen Joachim
Albrecht, Thurn und Taxis und Leopold, Herzog
Abolf Friedrich von Mecklenburg, Fürst Christian
Hohenlohe, Prinz Heiprich Pleß: es ist also gewisser¬
maßen ein aristokratisches Unternehmen und als
rein sportliches wird es ja wohl seine aristokratischen
Tendenzen beibehalten. Aber die Automobil¬
Bewegung wird nicht allein Sport bleiben. Das
betonte auch unser neuer Handelsminister bei
Gelegenheit des Festmahls im Kaiserhof=Hotel, das
der Club den sranzösischen Gästen gab. Ein ge¬
fälliger Freund hatte mir eine Einladungskarte ver¬
schafft. Den Empfang der Automobilisten im
estend hatte ich mir geschenkt; die Begeisterung
soll dort ebenso hochwirblig gewesen sein wie der
Staub. Sie ließ auch ohne Staub, im großen
Festsaal des Kaiserhofes, in dem bei dieser Gelegen¬
heit wohl zum ersten Male die Marseillaise gespielt
wurde, nicht zu wünschen übrig.
Die Automobilfahrt Paris=Berlin brachte eine
hübsche Abwechslung in das sommerliche Leben der
Hauptstadt. Nun ist es wieder still geworden
und auch langweilig. Die Feuerwehr=Ausstellung
am Kurfürstendamm bietet manches Interessante,
lockt aber doch die Besucher nicht so, wie man
ehofft hatte. Der See der Geselligkeit kräuselt sich
kaum. Als den plötzliche Tod Wilhelm Bismarcks
bekannt wurde, war noch ein guter Theil der
Gesellschaft daheim, und Graf Bill hatte auch in
Berlin viele Freunde. Der Tod des greisen
Fürsten Hohenlohe hat kaum eine Bewegung her¬
orgerufen. Von allen unsern großen und ver¬
dienten Männern hat sich selten einer so wenig
auf Popularität verstanden als Hohenlohe. Sein
Nachfolger im Amt hat die Kunst, sich volksthüm¬
lich zu machen, besser heraus. Von seiner anfecht¬
baren Rede bei Enthüllung des Bismarck=Denkmals
zehrten die liberalen Blätter vierzehn Tage lang.
Das Denkmal lockt die Neugierigen noch immer in
Massen herbei. Auch ich habe mich neulich über¬
wunden und der Betrachtung der Begasschen
Schöpfung eine volle Stunde gewidmet. Aber ich
bin traurig nach Hause gegangen. Man brauch
nicht in den albern hämischen, absprechenden Ton
des Professors Muther zu verfallen, um das Denk
mal unschön zu finden. Die Masse und das Riesig
hat es in diesem Falle nicht gemacht. Das i
virklich nicht „unser" Bismarck und nicht de
Bismarck, wie er fortleben wird, so lange e
Und ringsum die unschöner
Deutsche giebt.
Allegorien: eine Sphinx mit Soubrettengesicht und
eine Germania, die schläfriger aussieht, als der
erwachende Michel. Schließlich ist alles Geschmacks¬
sache. Es giebt Viele, die das Denkmal wändernoll
inden; mich dünkt es barbarisch...
Auch über den „Fall Reicke“ ist es still geworden
Graf Bülow hat ein Machtwort gesprochen und be
hält den Dr. Reicke, aber nicht als Consistorial¬
rath. Das war wieder einmal ein geschickter Schach
zug des Grafen; seine Popularität wächst. De
Fall Reicke“ war noch an der Tagesordnung, al
sich zu Wien der „Fall Schnitzler“ ereignete, dem
nan auch hier viel Interesse enkgegenbrachte. Abe
die beiden Affairen in Parallele bringen zu wollen
seht doch nicht recht an. Die freisinnigen Blätter
schrien Zeter und Mordio über den seiner Charge
für verlustig erklärten Sanitätsoffieier, und es gab
#lich Zeitungen, die darauf hinwiesen, daß so etwa
„bei uns“ nicht passiren könne. In der That ist e
meines Wissens noch nicht vorgekommen, daß man
inen schriftstellernden Reserveofficier seiner litera¬
ischen Arbeiten wegen gemaßregelt hat; nur auf
politischem Gebiete — ein ganz anderer Fall — heit
ich Aehnliches ereignet. Man darf indessen nicht
ergessen, daß Schnitzler sich in der Hauptsache
arg gegen die Disciplin vergangen hat.
wurde vom Ehrengericht aufgefordert, sich zur Ver¬
antwortung zu stellen, und hat es vorgezogen,
einfach nicht zu erscheinen, ohne ein Wort der Ent¬
chuldigung; er hat seine Maßregelung in gewisser
Weise selbst provocirt, während es ihm andererseits
icher nicht schwer geworden wäre, die gegen ihn
vorliegenden Bedenken zu zerstreuen. Der Unter¬
chied zwischen den Fällen Reicke und Schnitzler ist
ist ein so gewaltiger, daß sie sich ger nicht ueben¬
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