I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 84

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Unter solchen Umständen ist es daher keineswegs überflüssig, wenn im Folgen¬
den der Versuch gemacht werden soll, ihn sine ira et studio zu prüfen, wozu jetzt,
sich die Wogen der Empörung ein wenig geglättet haben, die beste Gelegenheit
wo
ist. Daß dies eingehender geschehen wird als es sonst bei einer Bücherbesprechung
üblich ist, wird durch die außerordentliche Seltenheit des Falles und die bedeutsame
soziale Frage, die er aufrollt, vollauf gerechtfertigt.
Zunächst gilt es einmal festzustellen, was denn der Inhalt der inkriminirten
Erzählung ist. Es handelt sich darin um Folgendes:
Lieutenant Gustel, ein junger Offizier vom Durchschnittstypus, geräth nach einem
Konzert im Gedränge der Garderobe mit einem Backermeister in einen kurzen Wort¬
wechsel, wird von diesem „dummer Bub“ geschimpft und gewaltsam daran verhindert,
zur Tilgung dieser Insulte den Säbel zu ziehen. Merkwürdigerweise hört und sieht
niemand Etwas von dieser Szene. Dennoch fühlt der Lieutenant die Verpflichtung, sich
das Leben zu nehmen, denn der Gedanke an die ungetilgte Beschimpfung, die ihm
angethan worden, ist ihm unerträglich; daß der Bäcker ihm zugeflüstert hat, er wolle
über die Sache schweigen, kann daran nichts ändern, denn er will seine Ehre nicht
von der Gnade dieses Menschen abhängig machen, und es genügt ihm schon, daß ein
einziger Mensch von seinem Unglück weiß, um so nicht weiter leben zu wollen. Er
ist also fest entschlossen, sich zu töten. In seiner Aufregung irrt er durch die nächt¬
lichen Straßen bis in den Prater hinunter, verbringt daselbst den Rest der Nacht
auf einer Bank und tritt am frühen Morgen den Heimweg an, um sich zu Hause zu.
erschießen. Vorher sucht er aber, trotz seiner Aufregung hungrig geworden, sein
Kaffeehaus auf, um zu frühstücken. Hier erfährt er, daß der Bäckermeister, der gleich
ihm ein Stammgast dieses Kaffees ist, in der Nacht vom Schlage getroffen worden
und gestorben ist. Der Tod dieses Mannes, des Einzigen, der von dem Mackel auf
seiner Ehre gewußt hat, gibt ihm das Leben wieder. Niemand auf der Welt weiß
es jetzt, also darf er am Leben bleiben.
Das ist in Kürze der unläugbar interessante Vorwurf. Die wahrhaft brillante
Technik, mit der ihn der Autor ausgeführt hat, verleiht der Novelle noch einen
ganz besondern Reiz; er erzählt sie namlich nicht in objektiver Form, legt sie auch
nicht nach der veralteten, unnatürlichen Manier dem Lieutenant in den Mund oder
in die Feder, sondern gibt sie so, wie sie sich in dessen Seele abspielt, und zwar in der
aphoristischen, nicht auf schönen Satzbau u. s. w. bedachten Weise, in der man eben
zu denken pflegt. Statt z. B. zu schreiben: Der Lieutenan fragte sich, wie lang es
denn noch dauern solle, und zog seine Uhr zu Rate, schreibt er also: „Wie lang
wird es denn noch dauern?“ Ich muß auf die Uhr schauen ... schickt sich wahr¬
scheinlich nicht, aber wer sieht's denn?“ diese neu= und eigenartge Darstellungs¬
form, die für größere Erzählungen wohl kaum durchführbar wäre, wirkt in dieser
kurzen Geschichte aber ganz außerordentlich.
Daß die Seelenkämpfe des jungen Mannes mit virtuoser Freiheit wiedergegeben
sind, kann bei Schnitzler nicht wundern; sie sind ebenso fein und sorgfältig als die
dem Text der Buchausgabe beigegebenen Illustrationen von M. Coschell plump und
nachlässig.
Ueber diesen großen Vorzügen der Arbeit, die abzuläugnen nur völliger Unver¬
stand oder blindwütige Parteilichkeit im Stande ist, und die sie zu einer der besten
des Autors stempeln, darf man aber nicht vergessen, daß sie auf bedenklich schwachen
Füßen steht, daß die Prämissen, auf denen die Erzählung aufgebaut ist, nichts
weniger als sicher und fest sind: daß ein Wortwechsel in einer Garderobe, wo
Mann an Mann gedrängt nach seinen Ueberkleidern langt, völlig unbemerkt bleiben
soll, ist sehr, sehr unwahrscheinlich, und noch unwahrscheinlicher wird die Sache wenn
man glauben soll, der Bäckermeister habe den Sübelgriff des Lieutenants so fest ge¬
halten, daß dieser von seiner Waffe nicht Gebrauch machen konnte. Eine derartige