I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 85

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10. Leutnant Gustl
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Szene kann doch nicht unbemerkt bleiben! Auf dieser Unwahrscheinlichkeit beruht
aber die ganze Handlung, sie steht und fällt mit ihr.
Es fragt sich nun: was ist es, das diese Erzählung in den Augen des
militärischen Ehrenrats zu einem so schweren Vergehen gegen die Offiziresehre macht,
daß er sich veranlaßt fühlte, ihren Autor der Offizierscharge zu entkleiden?
Wie es scheint, ist es die Handlungsweise des Lieutenants Gustel; wenigstens
schreibt die „Reichswehr“ darüber: „Wo lebt denn ein so jämmerliches, churakter¬
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loses Subjekt, ein so widerlicher Ignorant und Zyniker wie dieser Lieutenant Gustl:
Nun, ich denke, die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach: überall lebt er, wo es
Offiziere gibt! Das soll durchaus nicht etwa eine Herabsetzung des Offiziersstandes
sein, das ist nur die Wahrheit und keineswegs eine Schande für diesen, denn dieser
Lieutenant Gustl ist weit davon entfernt, ein „jämmerliches Subjekt“ zu sein, sondern
ist nicht mehr und nicht weniger als ein Durchschnittstypus, ein Mensch wie er im
Zivil und Militär in ungezäylten Exemplaren zu treffen ist; ja er ist sogar ein
symnathischer, zum mindesten nicht antipathischer Mensch; freilich ist er ein leicht¬
sinniger Patron, der ziemlich gedankenlos in den Tag hineinlebt, keine Bedenken
trägt, arge Schulden zu machen, und dessen Horizont nicht viel über den Dienst und
die Weiber hinausreicht; aber ich denke, ebendasselbe läßt sich mit vollster Sicherheit
und Berechtigung von hunderten von jungen Männern im Allgemeinen und von
jungen Offizieren im Besonderen behaupten. Es wir aber niemand einfallen über
diese unfertigen, unausgereiften Menschen, aus denen noch tüchtige Männer werden
können, wenn sie die Zeit und das Leben einmal in ihre harte Schule genommen
hat, den Stab zu brechen und sie als eine Schande ihres Standes in Acht und
Bann zu thun. Es ist also auch nicht der geringste Grund dafür da, diesen Lientenant
Gustl deshalb ein „jämmerliches Subjekt“ zu nennen. Es ist um so weniger
Grund, als dieser junge, leichtsinnige Durchschnittsmensch von dem Moment an, da
ihn das Unglück ereilt, bei aller Banalität zu einer gewissen tragischen Größe heran¬
wächst, die nicht nur unser Mitleid, sondern unsere vollste Hochschätzung erweckt. Man
denke nur: ein junger, lebenslustiger Mensch sieht sich urplötzlich mitten in seinem
Jugendglück vor die Alternative gestellt, entweder mit einem Mackel auf seiner Ehre
weiter zu leben oder sich zu töten, und ohne sich lange zu besinnen, entschließt er
sich, seinem Leben ein Ende zu machen. Darin liegt doch ein gewisser Heroismus,
denn man muß sich dabei vor Augen halten, daß der Selbstmord in diesem Falle
nicht den einzigen Notausgang bedeutet, der den Verbrecher oder Spieler vor Schande
und Elend bewahrt, sondern nur ein freiwilliges Opfer auf dem Altar eines über¬
spannten, ungerechten Ehrbegriffes. Lientenant Gustl hat nicht wie der Defraudant
oder Spieler eine Schuld zu fühnen, denn er hat nichts verbrochen; es war nichts
anderes als ein unglücklicher Zufall, der auf seine Standesehre einen Mackel ge¬
worfen hat; seine allgemein menschliche Ehre bleibt unberührt; auch wenn er
des Kaisers Rock ausziehen müßte, würde niemand, auch kein Offizier, Bedenken
tragen können, ihm die Hand zu reichen.:) Dennoch zieht er den Tod vor. Man
sollte nun meinen, ein solcher Mann sei kein „jämmerliches Subjekt“ wie die „Reichs¬
wehr“ schreibt, sondern eher ein Held. Warum also der Schimpf? Offenbar nur
darum, weil der Lieutenant seinen Entschluß nicht ausgeführt, weil er sich nicht ge¬
tötet hat. Nun, ich denke, an seiner Stelle hätte unter tausenden von Offizieren kaum
Einer anders gehandelt. Warum auch? der Einzige, der von dem Mackel auf seiner
Standesehre gewußt hat, ist tot, und damit ist für ihn jeder hinreichende Grund
entfallen, sich das Leben zu nehmen. Ich höre entrüstet einwenden, für den Ehren¬
mann müsse es gleichgiltig sein, ob die Verletzung seiner Ehre der Welt bekannt sei oder
nicht; es genüge, daß er sich vor sich selber schämen müsse, um daraus die letzten
Konsequenzen zu ziehen. Wer dies nicht thut, sei eben ein Feigling. Ganz schön,
*) 2 ! (Die Schriftleitung.)