I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 87

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10. Leutnant Gustl
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Und dennoch! dieses Urteil ist, wenn man es auch nicht zu billigen braucht,
begreiflich, ja, es läßt sich sogar vollkommen rechtfertigen. Das klingt nach dem
bisher Gesagten befremdend, ja unverständlich. Es ist aber durchaus begründet und
berechtigt. Wenn die „Reichswehr“ schreibt: Es gibt keinen Offizier, der die
famose „Studie“ Schnitzlers gelesen hat und der dabei nicht den subjektiven Eindruck
einer Verhöhnung jener Ansichten und Satzungen empfangen hätte, die dem Ofsizier
nun einmal sakrosankt sind“, so ist diese Behauptung zwar zu allgemein und parteilich
stilisirt, aber sie dürfte im Großen Ganzen den Nagel auf den Kopf treffen. That¬
sächlich wird nicht nur die Mehrzahl der Offiziere, sondern fast jeder Freund der
Armee — und im entgegengesetzten Sinne wohl auch jeder Feind — bei oder nach
der Lektüre dieser Novelle die Empfindung haben, das hat Einer geschrieben, der
die Offiziere nicht leiden kann: Ich selber, der ich dem hochinteressanten Vorwurf
und der brillanten Technik der Novelle unbedenklich die höchste Anerkennung zolle,
muß gestehen, daß mich die Lektüre erbittert und erregt hat, da ich darin eine deutliche
Feindseligkeit gegen den Offiziersstand herausfühlte.
Woher aber dieser Eindruck, da — wie im Vorausgegangenen eingehend er¬
örtert worden,
— doch weder die Handlungsweise, noch die Persönlichkeit des
Lieutenants auch nur den geringsten Anlaß hiezu bietet? Die bequemste Antwort auf
diese Frage wäre: „C’est le ton qui fait la musique..
Aber sie wäre doch zu
dag, und keinesfalls würde dieser allgemeine Empfindungs=Eindruck zu einem
so
harten Urteil berechtigen. Rückt man der Erzählung aber näher an den Leib, so wird
man nach sorgfältiger Prüfung einige Stellen entdecken, die unverkennbar verraten,
daß der Autor ein Mann ist, der dem Offiziersstande nichts weniger als freundlich
gesinnt ist. So erfährt man, daß Gustl nur darum zum Militär gekommen, weil er
auf dem Gymnasium nicht gut gethan hat, was der Autor wohl nicht nur für diesen
besondern Fall gemeint, sondern auf die Gesammtheit der Offiziere bezogen hat.
Oder sollte er damit nicht haben sagen wollen, daß in der Regel nur der Offizier
werde, der zu nichts anderem tauge? Er wird es vielleicht in Abrede stellen und
beweisen kann man es ihm nicht. Es gibt aber noch viel deutlichere Stellen: da
heißt es einmal: „. . . Die Frau von meinem Hauptmann, das wär' ja doch
keine anständige Frau . . . ich könnt' schwören: der Libitzky und der Wermutek und
der schäbige Stellvertreter, der hat sie auch gehabt . .. aber die Frau Mann¬
heimer . . . ja das wär' was anders, das wär' doch auch ein Umgang gewesen,
das hätt' einen beinah' zu einem andern Menschen gemacht
da hätt'
man doch noch einen anderen Schliff gekriegt ...
Man beachte nur: „die
unanständige Offiziersfrau und die hochanständige Frau Mannheimer als typische
Gegensätze. Sapienti sat! Der Autor wird dagegen vermutlich einwenden, es gäbe
unzweifelhaft unanständige Offiziersfrauen und anständige Jüdinnen, es liege
somit gar keine Bosheit vor. Das Erste läßt sich nicht bestreiten, aber das Zweite
zum mindesten bezweifeln, denn warum ist die unanständige Frau ganz ohne Zwang
gerade die Gattin eines Offiziers und die anständige eine Jüdin? Da liegt denn doch die
Antwort sehr nahe: weil der Autor allem Anscheine nach den Offiziersstand nicht leiden
kann und selbst ein Jude ist, — das ist übrigens noch bei weitem nicht das Schlimmste
das liegt in folgender Stelle: „. . am liebsten möchten sie (die Sozialisten) gleich's
ganze Militär abschaffen; aber wer ihnen dann helfen möcht' wenn die
Chinesen über sie kommen, daran denken sie nicht.“ Ich frage, welcher
österreichische Lieutenant mit fünf hellen Sinnen wird einen solchen Unsinn denken,
wie er da Lieutenant Gustl in die Seele gelegt worden ist? Daß Oesterreich jemals
von China überfallen werde, ist ja völlig undenkbar, schon aus rein geographischen
Gründen. Schnitzler ist auch ein viel zu feiner Kopf, um ernstlich zu glauben, daß
ein Offizier solchen Nonsens denke;
warum also imputirt er ihm — gegen alle
psychologische Wahrscheinlichkeit — seinem Lieutenant Gustl? Offenbar doch nur,
um die Zwecklosigkeit des Militärs darzuthun, es als eine lächerliche Institution zu