I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 92

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10. Leutnant

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Helden unsere Sympathie gewinnt, ist der Hauptbeweis
deutschen Wald und seinem Elfengeflüster webt in dem
dichterischer Genialität, die er in diesem psychologischen
Gedicht von der Vermählung König Waldmeisters mit
Essay gegeben hat.
Prinzeß Rebenblüte. Das kleine Epos, das so anmutig
und leicht von dem pflanzenausraufenden Botanikus zu
Graf Leo Tolstoi: Aufruf an die Mensch¬
den Märchengeistern eines Sommernachtstraums hinüber¬
heit. Einzig bevollmächtigte Uebersetzung von Wladimir
spielt, ist eine mit lyrischen Juwelen durchflochtene Kette
Czumikow. (Verlegt bei Eugen Diederichs, Leipzig. 1901).
lieblichster Naturempfindungen. Eines dieser lyrischen
Tolstois mehrere „Aufrufe an die Menschheit" sind
Gedichte ist in Baumgartners Komposition einst auch in
für Rußland sehr berechtigte Notschreie. Wir jedoch in
Konzertsälen beliebteste Zugabe gewesen: „Noch ist die
der Schweiz können mit ihnen nichts anfangen, sie passen
mit dem Refrain: „Noch sind
blühende goldene Zeit“
nicht auf die Zustände unserer demokratischen Republik,
die Tage der Rosen.“ Wer uns illusionsbedürftigen
die zwar gewiß auch der fortwährenden Entwicklung zum
Menschlein so was ins Herz singt, dem glauben wir gerne
noch fernen socialen Ideal bedürfen, aber zu dieser Ent¬
Und darum sind auch für das Poem des toten Dichters
wicklung auch den einzig rechten Talisman besitzen: den
noch „die Tage der Rosen“, wie diese 75. Auflage beweist.
Stimmzettel in der Hand des freien und unterrichteten
Bürgers. Wir sind also nicht der Ansicht, daß unsere
Leutnant Gustl. Von Arthur Schnitzler.
Leser die beiden ersten Aufsätze dieses Büchleins: „Muß
Illustriert von M. Coschell. (Berlin, Verlag S. Fischer.
es denn wirklich so sein?" und „Wo ist der Ausweg?
1901.)
zu lesen brauchen. Das dritte Stück der nur etwas über
Eine „Novelle“ hat Schnitzler den Prosamonolog ge¬
100 Seiten starken Schrift kann dagegen allgemeines In¬
den er vom 13.—17. Juli 1900, also in vier
nannt,
teresse beanspruchen. Es enthält unter dem Titel „Ge¬
Tagen, hinschrieb. Dem Inhalte nach ist es eine Offi¬
danken über Gott“ aphoristische Ideen, wie sie dem
zierstragödie. Freilich, dicht vor der Katastrophe wird
Dichter und Denker nicht bloß von seinem suchenden Ver¬
noch glücklich abgeschwenkt. Leutnant Gustl braucht sich
stand, sondern vor allem von seinem Herzensbedürfnisse
nicht totzuschießen, wie er es diese ganze schreckliche
eingegeben wurden und die er etwa so niederschrieb, wie
Nacht hindurch für seine Pflicht gehalten. Denn am Mor¬
man in ein Tagebuch Eintragungen macht. Am merk¬
gen erfährt er, daß der dicke, starke Bäckermeister, der
würdigsten schien uns folgende Stelle:
ihn beim Hinausgehen aus dem Konzert ganz leise einen
Einer der am meisten alle unsere metaphysischen Be¬
„dummen Buben genannt hatte und der nun allen Leuten
griffe verwirrenden Aberglauben ist der Aberglaube, daß
erzählen könnte, daß Gustl nicht im stande war, ihn so¬
die Welt erschaffen sei, daß sie aus nichts entstanden
fort niederzustechen, denn er hielt mit eiserner Faust die
sei und daß es einen Gott=Schöpfer gäbe.
Hand und den Degengriff des Leutnants umklammert,
„Eigentlich haben wir nicht die geringste Veranlassung
daß dieser fatale Bäckermeister beim Nachhauseweg
und es auch gar nicht nötig, uns Gott als Schöpfer zu
einem Schlaganfall erlegen ist. „Also doch eine Novelle
denken (die Chinesen und Inder kennen diesen Begriff
sagt der Leser. Ja, nur nicht in der Form. Nichts
nicht), dagegen kann der schöpferische Gott mit dem
wird erzählt. Nie ergreift der Verfasser das Wort.
christlichen Gott zusammen gar nicht gebacht werden, mit
Jedes epische Moment ist mit sauberer Technik in den
dem Golt Vater, dem Gott-Geist, dem Gott, von dem ein
Monolog des Leutnants hineingewirkt. Und dieser Mono¬
Teilchen in mir lebt, das mein Leben ausmacht, ein
log, im Konzert anhebend, das der Leutnant mit einem
Leben, dessen Zweck es ist, dieses Teilchen zum Ausdruck
geschenkten Billet besucht und in dem er sich schier zu
zu bringen.
Tode langweilt, ist das wundervollste anatomische Prä¬
„Der Gott=Schöpfer ist gleichgültig und läßt die Leiden
parat einer österreichischen Leutnantsfeele. „So seht ihr
und das Böse zu. Der Gott=Geist aber erlöst von dem
scheint der Dichter dem Durchschnitt
inwendig aus“
Leiden und vom Uebel und ist immer das vollkommene Gute.
dieser Herren zuzurufen; er weiß natürlich, daß es auch
Einen Golt=Schöpfer giebt es nicht. Es giebt ein Ich,
andere giebt, bessere und schlechtere, gescheitere und
das durch die mir verliehenen Werkzeuge der Sinne die
noch dümmere als sein Leutnant Gustl. Aber offenbar
Welt erkennt und innerlich seinen Gott-Vater kennt. Er
stellt Gustl den häufigsten Typus vor. Zu diesem Typus
ist der Anfang meines geistigen Ichs. Die äußere Welt
gehört wahrscheinlich auch der Widerspruch von Seite 32
aber bildet nur meine Grenzen.
und Seite 80. Auf Seite 32 sagt sich Gustl, er müsse
Diese Trennung der Gottesidee von der Weltschöpfer¬
ich töten, auch wenn der Bäckermeister, der ihn beschimpft
idee würde allerdings das wesentlichste Hindernis weg¬
hat, diese Nacht noch sterben sollte und also niemand von
räumen, das gerade Menschen von hoch entwickelter siti¬
der Geschichte erführe. Denn: „Ich weiß es . . . und ich
licher Feinfühligkeit von Gott entfernt, indem sie ihn für
bin nicht der Mensch, der weiter den Rock trägt und den
eine in Blut und Schleim und Kot hineingezwängte Welt
Säbel, wenn ein solcher Schimpf auf ihm sitzt!
der Grausamkeit und der vernunftwidrigsten Leiden ent¬
muß ich es thun, und Schluß!“ — Auf Seite 80 hingegen
weder verantwortlich machen oder dann gänzlich leugnen
denkt er nicht mehr von fern an diesen Zwang im eigenen
müssen. Aber wie man philosophisch und logisch es recht¬
Gewissen. Der Bäcker, der einzige Zeuge seiner Beschim¬
fertigen kann, den Weltschöpferbegriff vom Gottesbegriff
— juhe! weitergelebt. Auf den
pfung, ist tot. Also
loszulösen, ist uns nicht klar und Tolstoi selbst giebt hier¬
Abend bestellt er sich seine Stephanie und vorher noch, um
über keine andere Andeutung, als den Hinweis auf alte
4 Uhr nachmittags, hat er ein Säbelduell mit einem Dok¬
asiatische Religionssysteme, die dies fertig gebracht haben.
tor. Den wird er „zu Krenfleisch“ zusammenhauen, er
Auch scheint er sich selbst zu widersprechen, wenn er an
ist so gut aufgelegt dazu.
einer andern Stelle schreibt:
Der Monolog durchläuft alle möglichen Stimmungen
„Unbegreiflich, wie ich früher die unanfechtbare Wahr¬
und Gemütszustände. Im Anfang wirkt die wahrhaft
heit nicht sehen konnte, daß jenseits dieser Welt und unseres
klassische Verachtung des Leutnants für die Konzertlang¬
irdischen Lebens irgend jemand da ist, irgend etwas, das
weilerei höchst belustigend, auch seine Reminiscenzen an
weiß, wozu diese Welt existiert in der wir, wie die
ein Souper bei einer reichen jüdischen Bankierfamilie
Blasen im Wasser, aufkochen, zerplatzen und verschwinden.“
und die Ausbrüche seines unverfälschten, aber doch mehr
Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß „der jemand, der
nur konventionellen Antisemitismus machen den Eindruck
da weiß, wozu diese Welt existiert“ dies nur weiß, weil
einer fröhlichen Satire. Nachher wird die Sache bäng¬
er sie geschaffen hat. Wir müssen bekennen: Tolstoi,
licher. Der arme Fuchs sitzt im Eisen und man fürchtet,
der große Dichter und edle Reformator seines Volkes,
es werde ihn erwürgen. Man kann dem Leutnant näm¬
imponiert uns als Philosoph wenig. Mit seinem prophe¬
lich bei all seiner Thorheit nicht ganz gram werden. Er ist
tischen Gebaren ist er für seine Russen ein Zünde=Denker,
ja nicht das Produkt seines freien Willens. Daß Schnitz¬
aber für uns kein Zu=Ende=Denker.
ler dieses Menschliche so herausgebracht hat, das seinem
Jent & Co. in Bern.
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