I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 94

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10. Leutnant Gustl

Tegbgelung,
N 469
220
Vom Büchertisch.
Leutenant
Gustl. Novelle von Arthur
Schnitzler. (Illustriert geh. 1 M.): Es ist die harmlose
Ich=Geschichte eines harmlosen kleinen Leutenants, der sich in
einen eingebildeten Ehrenkonflikt hineinängstet, und den uns
der Verfasser mit einer guten Dosis ironischer Ueberlegenheit
zeichnet. Meisterhaft durchgeführt ist in der kleinen, gut illu¬
strierten Novelle der flüchtige Stil des Selbstgespächs. (Verlag
S. Fischer=Berlin.) — In dem Roman „Frau Bertha
Harlan“ erzählt uns der gleiche Autor die Geschichte einer
jungen frühverwitweten Frau, einer innerlich einfachen All¬
tagsnatur, die ein heißer Wirbel mit sich fortreißt, die aber nicht
in der Tiefe versinkt, sondern sich in ihren bescheidenen Lebens¬
kreis zurückrettet. Seiner Gestalten haben oft etwas Brutal¬
Geschautes; sie erscheinen uns wie Menschen, die in heißer
Sonne über ein langweiliges Pflaster gehen
— zum Teil mo¬
ralisch verknitterte Dutzendseelen, denen man nicht gut und nicht
böse wird. Vielleicht hat er grade damit den Lebensinhalt des
kleinen Kreises ganz erschöpft. (Geh. 3 =. Verlag S. Fischer¬
Berlin.) — In Anbetracht der Ueberfülle des „Weiberpsycholo¬
gischen“ jagt einem der Titel „Vom Weibe — Charakter¬
zeichnungen von Maria Janitschek“ ein lindes Grauen
ein. Das Vorwort klingt wie eine Entschuldigung, daß diese
sieben Stizzen in einer Neuauflage erscheinen. Dem einen ist
es gegeben, die Heiligtümer, dem andern die Irrgänge der
menschlichen Natur zu erforschen — wenn nur das Stoffgebiet
künstlerisch bewältigt wird. Anteil nehmen vermag wohl nie¬
mand am Hexentanz dieser sieben Weiberseelchen. Auf die
Frage, wozu man diese pathologischen Sumpfblumen noch ein¬
mal erblühen läßt, antwortet uns die Verfasserin sehr deutlich:
Ihre besten Bücher kauft niemand. (Verlag S. Fischer=Berlin.)
Ausschnitt
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aus
10
Bonner Zeitung
15 DETTOR
achtsbüchertisch.
Vom Weihnderselbe Vorwulf=trifft
Inhur Schnitzler
1n
seiner neuesten Novelle
eurmamr=Sufti (Berlin, S. Fischer). In monolo¬
isierender Form berichtet er von einem östreichischen
Leutnant, der von einem Bäckermeister in der Garderobe
eines Konzertsaales beleidigt wird und die Beleidigung ruhig
uf sich sitzen läßt. Hinterher kommen ihm freilich schwere
Bedenken, und mit diesen Seelenstimmungen beschäftigt
sich das Buch in der Hauptsache. Leutnant Gustl weiß,
daß der Bäckermeister den Vorfall ausplaudern wird
und daß er selbst als ein „Ehrloser“ den Dienst quit¬
tieren muß. In seiner Angst beschließt er, sich zu töten,
aber noch ehe er die That ausführt, erfährt er, daß der
wackere Bäckermeister in derselben Nacht, in der die Be¬
leidigung fiel, gestorben ist. Die Technik der Novelle
ist brillant, in Einzelheiten verrät der Verfasser eine
scharfe Beobachtungsgabe, aber dazwischen laufen zahl¬
lose schnodderige und unfeine Dinge unter, und die
Lösung des Konfliktes ist von einer Oberflächlichkeit, daß
der Leser das Buch nur unbefriedigt aus der Hand
legen kann. „ie#
hoha.
De Jae
N 2u4
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Vom Büchermarkt.
Arthux=Schnitzler. Leutnant Gustl. S. Fischer, Berlin.
Disse Novelle behandelt die Säbel=Ehre, ähnlich wie das
Schauspiel „Freiwild“ desselben Verfassers. Sie war zuerst
gin der Neuen Freien Presse erschienen, und es hieß danach,
Schnitzler, der Reserve=Offizier sei, werde seinen Offiziers¬
rang verlieren. War das Gerede berechtigt oder nicht, ich
weiß es nicht. Im Leutnant Gustl ist der Begriff der Säbel¬
Ehre tiefer und gründlicher erfaßt, als im Freiwild. Leutnant
Gustl ist ein guter Kerl vom Dutzend. Der Leutnant im
Freiwild ist ein böser Bruder und Va banque-Spieler im
Leben. Für ihn bedeutet die Säbelehre einen Deckmantel
für alles übrige Thun. Anders bei Leutnant Gustl, der nach
der Weise vieler seiner Kameraden „harmlos“ lebt. Da
erfährt der Harmlose einmal ein tragikomisches Abenteuer.
Er war in ein klassisches Oratorium gelotst worden und hat
sich, da er mehr „für's Fesche“ ist, „riesig“ gelangweilt. An
der Garderobe dann, das Gedrängle, vor ihm ein breiter, dicker
Bäckermeister, kurz, Leutnant Gustl wird nervös, verliert die
Selbstbeherrschung und fährt den feisten Bäckermeister an:
„Machen Sie doch Platz!“ Ein Wort giebt das andere,
Leutnant Gustl ruft: „Halten Sie's Maul!“ und der Bäcker¬
meister, ein herkulischer Mann, erfaßt den Säbel des
Leutnants am Griff, hält ihn fest und sagt dem Leutnant
Gustl still ins Ohr: „Wenn Sie das geringste Aufsehen
machen, zieh' ich den Säbel aus der Scheide, zerbrech' ihn
und schick' die Stück' an Ihr Regimentskommando, versteh'n
Sie mich, Sie dummer Bub?“
Der Leutnant ist wie betäubt, er meint zu träumen. Der
Bäckermeister fügte hinzu: „Es hat's niemand g’hört, ich
will Ihnen die Karriere nicht verderben. Hab' die Ehr',
Herr Leutnant!“ Fort war der Bäckermeister, und der
Leutnant in seiner Bestürzung hat ihm nicht den „Schädel
auseinander g’hauen.“
Der Zwischenfall ist im Gedränge nicht beachtet worden
Aber seine Ehrbegriffe hat man doch nicht bloß für seine
Kameradschaft, sondern für sich zunächst. Das eigene Ge¬
wissen richtet, und Leutnant Gustl richtet streng korrekt. Du
hast die Säbelehre, die dir anvertraut ist, nicht gewahrt;
du bist vor dir selbst kein Offizier mehr. Als Nicht=Offizier
kannst du nicht leben, also stirb!
Wie die Gedanken an Freunde und Verwandte einstürmen,
wie das ganze, ziemlich nichtige Leben des Leutnants Gustl
noch einmal vor seinen Augen vorüberzieht, wie sich die
süßen Gewohnheiten des Daseins melden, das ist in vielen
Zügen sehr fein beobachtet und das Beste an der Erzählung.
Leider schlägt die Novelle zum Schluß in Ironie um, in
eine Ironie, die sehr geistreich mit dem ganzen Begriff der
Säbelehre spielt, und mit welchem Standesbegriff ließe sich nicht
spielen. Aber sie löst den tragikomischen Konflikt nicht innerlich,
ie ist ein Witz des Zufalls und ist im höchsten Sinn unkünstlerisch.
Bevor Leutnant Gustl zum Revolver greift, geht er noch ins
gewohnte Café, und dort erfährt er, daß der Bäckermeister,
sein Bäckermeister eben tödlich vom Schlage getroffen sei.
Alle Lebenslust tollt neu in seinem Blut, der Alp ist von
ihm genommen. Was ist's nun mit der Säbelehre? Ist sie
nicht weniger verletzt, weil der Mitwisser plötzlich starb? In
Wien allerdings erlebt man keine Tragödien, so meint
Hermann Bahr, und wenn er nach den Wiener Dichtungen
von heute urteilt, die fast insgesamt gern ins Spielerische
einmünden, so mag er recht haben.
L. Schönhoff.
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