I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 97

Gustl
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10. Leutnant

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1002. Js 1. — Die schöne
Art; aber die Modernen kommen ja ohne diese nicht mehr aus,
offenbar weil ihnen die deutsche Sprache für ihre „Differenziert¬
heit" und „desillusionierte“, „ästhetische Equilibristik“ nicht
mehr die genügenden Worte bietet:
Ganz anderer Art sind die geschichtlichen Erzählungen des¬
selben Verfts, „Jesus und Mirjam“ und der „Tod des Anti¬
christ“. Auch hier ist freilich des Beschreibenden allzuviel, sowohl
der Natur als der Menschen. Eine besondere Kunst verwendet
Schlaf darauf, den Tanz der Mirjam ausführlichst darzustellen:
aber auch sonst wird immer eine Beschreibung an die andere ge¬
reiht, ab und zu verfällt Schlaf dann wieder in den orientalisch
alttestamentlichen Stil. Der Inhalt der ersten Erzählung ist die
Liebe der Maria Magdalena, der großen Sünderin, zu Jesus,
der rein vom Weibe ist und bleibt; durch sie wird sie nämlich
gereinigt und seine Jüngerin. Die psychologische Wandlung ist
nicht eben sonderlich klar und folgerichtig, und allerhand biblisch
aufgeputzter Schwulst beschwert die Erzählung. „Der Tod des
Antichrist“ ist eigentlich nicht mehr als eine geschichtliche
Skizze, in welcher die letzten Lebenstage des Kaisers Nero mit
der für das decadente Rom eigenen Witterung unserer Mo¬
dernen in feiner, nervöser Nachfühlung der Zeitlage und der
Verhältnisse dargestellt werden.
Das letzte Selbstgespräch eines Todescandidaten im bekannten
schlechten Wiener Deutsch ist die Novelle von Arthur Schnitz¬
ler, „Lieutenant Gustel“. Durch einen Bäckermeister ist seine
„Ehre“ angetastet worden, er hat nicht thun können, was diese
Ehre gebietet, und ist demgemäß verpflichtet, sich am andern
Morgen totzuschießen. Aber der Bäckermeister thut ihm den
Gefallen, an einem Schlaganfall zu sterben, ehe der Lentnant
ein Selbstgespräch beendet hat; so löst sich alles in Wohlge¬
allen auf, und Gustel, diese edle Pflanze, kann weiter seinen
Lebenszweck verfolgen, der nach seinem eigenen Geständnis
darin besteht, „daß ich meinen Dienst mach', daß ich Karten.
piel' und mit Menschern herumlauf'“. So viel Aufwand um
ein nichtsnutziges Menschenleben! Wenn die ganze Sache noch
Humor oder wenigstens Satire hälte; aber die Geschichte ist ohne
Zweifel grimmig ernst gemeint, und das ist der Humor davon!
Offenbar hat man sie in Wien auch ernst genommen, denn der
Verf. ist nach Zeitungsnachrichten um dieser Geschichte willen
seines Charakters als Reservelentnant entkleidet worden. In
Folge dessen hat das Buch bereits die vierte Auflage.
Eine echte russische Liebesgeschichte ist „Ein junges Mäd¬
chen“ von Maxim Gorki. Das russische Drum und Dran ist
natürlich auch hier wieder meisterhaft und culturgeschichtlich
ungemein interessant. Die Russen sind und bleiben offenbar
Halbbarbaren. Was von der Heldin, einer weiblichen Kraft¬
natur, zu erwarten ist, zeigt ihre Einführung. „aus jeder Falte
ihrer Kleider sprühte ein aufregender, verführerischer Reiz.
In der Biegung der Nase und in den kleinen, hinter den vollen
Lippen glänzenden Zähnen lag etwas Wildes, Raubtierartiges,
und ihre entzückende, ungezwungene Haltung erinnerte an die
Grazie gepflegter, verwöhnter Katzen“. Natürlich verfällt der
Held, ein decadenter Professor aus der Großstadt, der die
wilde Blume auf ihrem Landsitz kennen lernt, langsam aber
sicher ihren Reizen; aber der ist nicht der Mann, den Teufel
festzuhalten und die Geschichte endet tragikomisch: er glaubt,
daß das schwache Weib als anschmiegsames Liebchen zu ihm
dem starken Manne komme, und muß erfahren, daß die Wilde
und Starke ihn halb totschlägt. Echt russisch!
Richard Weitbrecht.
Dr. Max Goldschmidt
Bureau für Zeitungsausschnitte und Verlag
der Wissenschaftlichen Revue.
Berlin N., Auguststr. 87 part.
Telephon Amt III, No. 3051.
Ausschnitt.
Düna-
Neue Bücher.
Das vielamstrittene und heille Capitel von der
Ehre behandelt Arthar Schnitzler's
„Lentnant Gustt—78. Fischer, Berten,
1901). Das Büchlein soll dem Verfasser, der öster¬
reichischer Reservelientenant war, den Ausschluß aus
den Reihen der Armee eingebracht haben. Der
Inhalt ist kurz folgender: Lieutenant Gasil wird
im Concert von einem Bäckermeister, den er in
wenig parlamentarischer Weise („Halt's Manl!“)
ersucht, ihm bei der Garderobeulette Platz zu machen,
„dummer Bub'“ gescholten. Und da er in seiner
Verblüfstheit, es unterläßt, dem Beleidiger gleich
den Schädel einzuhauen, maß er sich, wie der Codex
verlangt, — erschießen. Er verbringt eine qualvolle
Nacht im Prater und wie er in aller Herrgottsfrühe
sein Caféhaus aussucht, um sich für den bevor¬
stehenden Abgang vom Leben zum Tod zu stärken,
erfährt er, daß den Bäckermeister, der im Cafée
* Stammgast ist, in der Nacht der Schlag gerührt hat
und er todt ist, mauselodt. Lientnant Gastl aber
kannnun weiterleben und freut sich
naturgemäß unbändig darüber, denn vom
ganzen Handel weiß ja außer ihm und dem Beleidiger,
der nun todt ist, keine Meuschenseele Etwas. Nach
den Ehrbegriffen der Corporation hätte Lientenant
Gustl aber nicht weiterleben dürfen, sondern
müßte sich dennoch erschossen haben. Nach allgemein
menschlichen Begriffen wäre letzteres eine Sünde
gewesen und — eine große Dummheit. Und von diesem
ewußtsein ist auch Lieutenant Gustl erfüllt, dessen
igendliche Naivität, dessen rührend niedrige geistige
intwickelung, vermengt mit einer kindlichen Gut¬
nüthigkeit und tragische Oberflächlichkeit der
Begriffe von conventioneller Correctheit die betreffenden
Kreise wohl empfindlicher getroffen haben mögen,
als der Thatbestand der Erzählang selbst. Wie gesagt,
über Ehrbegriffe läßt sich streiten, eines aber ist für
mich unbestreitbar: daß nämlich Lientenant Gustl,
wenn es daza kommen sollte, im Felde vor dem
Feinde ein ebenso braver Officier sein wird, wie
mancher andere, der sich vielleicht in einem ähnlichen
Falle nach allen Regeln des Standescodex' erschossen
hätte. Und das Bravsein, winn's wirklich drauf
ankommt, ist doch wohl die Hauptsache. Im
Uebrigen ist der Charakter des jungen Offieiers in
den abgerissenen, sich in oberflächlichen Gedanken¬
associationen ergehenden Sätzen des Monologs von
Schnitzler mit großer Meisterschaft gezeichnet. Rüh¬
#ende Naivität,
eine kindlich
schwadronierende
Ertruption, flüchtige aber warme innerliche Gefühls¬
noten, und hier und da ein leises Aufleuchten des
Bewußtseins von der Hohlheit des eigenen Daseins
dazu die äußere Schneid', oberflächlich wie alles
an dem „dummen Bud'“, das sind die Grundzüge
des Lientenant Gastl, 'der jedenfalls ein Typus ist.