I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 164

10. Leutnant Gust
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enenene
Wien, 20. Juni.
Dr. Arthur Schnitzler hat in der belletristischen Weih¬
nachtsbeilage unseres Blattes eine Novelle veröffentlicht,
die seither als Buch erschienen ist. Heute wird gemeldet,
daß die vor sechs Monaten publicirte Erzählung den Anstoß
zu einem Richterspruche des militärischen Ehrenrathes
gegeben habe. Dr. Schnitzler sei zum Verluste der Charge
als Regimentsarzt in der Reserve verurtheilt worden, weil
er durch seine Novelle die Ehre des Officiersstandes ver¬
letzt und auf eine heftige Polemik nicht reagirt habe
Dr. Schnitzler ist nicht in Wien und der Wort¬
laut des Urtheils nicht bekannt. Die sachliche Wahr¬
heit dieser Nachricht wird uns jedoch von einer Seite
bestätigt, die dem Verfasser der Novelle nahesteht, und wir
erfüllen nur eine Pflicht, wenn hier zunächst der Nachweis
geführt wird, daß die Erzählung „Lieutenant Gustl“ weder
die Absicht noch die Wirkung haben konnte, den von jeden
Oesterreicher hochgehaltenen Officiersstand zu verletzen.
Schnitzler wollte zeigen, wie ein junger, mit allen Fasern am
Leben hängender, in leichtfertigen Vergnügungen seinen
Körper und sein Gemüth vertändelnder Mann plötzlich, mit
einem Ruck, in seiner Standesehre ohne Möglichkeit der
Genugthuung und Abwehr tief verletzt, aus der glatten Ober¬
flächlichkeit herausgerissen und vor die furchtbare Noth¬
wendigkeit gestellt wird, seine Schande im eigenen Blute
abzuwaschen. Es ist gewiß ein durchaus ernstes, echt künst¬
lerisches Problem, psychologisch darzustellen, wie dieser jahe
Umschlag und dieser schreckliche Druck des Zufalls au
einen fröhlichen, gutartigen, aber zu einem großen Schicksal
weder berufenen noch vorbereiteten Menschen eindringen
Die literarische Grundidee zeigt einen so hohen Flug
und ist so vollständig auf die scharfe Zergliederung
eines Seelenzustandes gerichtet, daß jede kleinliche
Tendenz ausgeschlossen war, und daß der Irrthum
Schnitzler habe das Officierscorps verletzen wollen, nur
entstehen kann, wenn der Schwerpunkt der Erzählung
in die Aeußerlichkeiten verlgt, ihr Sinn und Zweck
gänzlich mißverstanden wird. Auf die Frage, warum
Schnitzler gerade die Figur eines Lieutenants benützt habe,
um den innersten Kern seiner Dichtung zu entwickeln, soll
eine freimüthige Antwort gegeben werden. Jeder Künstler
hat das Recht, die Mittel zu wählen, die ihm zur Erreichung
des Zieles am tauglichsten scheinen. Nur vor dem Richter¬
stuhle des kunstverständigen Publicums hat er sich zu recht¬
fertigen, seine einzige Strafe ist Vergessenheit, sein
bleibender Lohn der Ruhm. Dr. Schnitzler hat sich vor
dem Ehrenrathe nicht vertheidigt, aber er hütte aufrichtig
und gewissenhaft behaupten können, daß die Wahl des
Stoffes, also das ehrliche künstlerische Bedürfniß, fast noth¬
wendig einen Officier zum persönlichen Träger der Novelle
machen mußte. Nur ein Lientenant mit seinem strengen
militärischen Ehrbegriffe, mit den besonderen Anschauungen
des Standes konnte in die Lage gebracht werden, daß ein
schauerlicher Vorfall, die nicht mehr zu rächende Gewalt¬
that eines vom Fieber der Apoplexie ergriffenen Bäckers,
ihn zum Entschlusse des Selbstmordes trieb.
Aber dieser Lieutenant Gustl ist mit allen Mängeln,
Flüchtigkeiten und thörichten Neigungen der Jugend durch¬
aus keine unsympathische Gestalt. Das Unglück kehrt sein
Innerstes nach oben, das Gute und Edle, dessen er sich im
leichtsinnigen Trott der Verguügungssucht selbst kaum be¬
wußt gewesen ist. Schnitzler zeigt uns die Wandelbilder seiner
Gedanken, verworrene und klare, im stürmischen Wechsel
eidenschaftlich bewegter Gefühle. In diesem Orcan steht
jedoch Eines für ihn fest. Ein österreichischer Officier muß
von eigener Hand sterben, wenn der lebt, der ihm eine
straflose Insulte zugefügt hat. Er schwankt keinen Augen¬
blick und will die Schmach büßen, daß er seinen Beleidiger
nicht auf dem Fleck mit dem Säbel niederschlagen
konnte. Die Versuchung des Lebenstriebes, sich, durch
Flucht nach Amerika zu retten, kann ihn von seinem Willen
nicht ablenken. Er könnte das Bewußtsein gedemüthigten
Selbstgefühls auch in der Fremde nicht ertragen und will
die Achtung seiner Kameraden nicht verlieren. „Jetzt heißt's, im
letzten Moment sich anständig benehmen, ein Mann sein, ein
Officier sein, so daß der Oberst sagt: Er ist ein braver
Kerl gewesen, wir werden ihm ein treues Angedenken
bewahren... Was ihn würgt und seine Kehle zusammen¬
preßt, ist die Erinnerung an seine Mutter und Schwester,
an die Sorgen, die er ihnen bereitete, an die geringe Theil¬
nahme, die er ihnen widmete. Wie verklärt sieht er jetzt
das Elternhaus vor sich, die Stille und Reinheit in der
Wohnung einer Officiers=Familie, die Frau, die mit einer
kleinen Pension den Haushalt führt, das kluge, ver¬
ständige Mädchen, um das er sich wenig gekümmert
und nicht einmal gefragt hat, warum es mit dem Ver¬
lobten gebrochen habe. Schnitzler läßt uns ahnen,
daß Gustl trotz der Flatterhaftigkeit und der grob sinn¬
lichen Auffassung des Weibes doch die ersten Spuren
einer tieferen und edleren Neigung trage. Freilich wird
uns kein Süßholz geboten, Gustl ist rauh, oft derb geschilbert
naturalistisch, mit starken Farben und Worten. Aber er wächst
vor unseren Augen im Unglück; er verräth die Erziehung
durch das gute Beispiel vornehmer Gesinnung bei den Eltern
und durch die Cindrücke der großen Schule des Charakters,
welche die österreichische Armee und das österreichische
Officierscorps stets waren und nie aufhören werden
zu
sein. Wirklich, es ist unsere volle Ueberzeugung, daß Schnitzler
den Officiersstand nicht verletzt hat und daß diese irrige
Meinung schwer zu erklären ist und vielleicht erst ent¬
stehen kann, wenn einzelne Sätze oder Worte ohne
jeden Zusammenhang mit dem Ganzen, ohne jede Fühlung
mit dem starken Zuge der Novelle betrachtet oder gedeutet
werden.
Gesetzt den Fall, Lieutenant Gustl wäre kein würdiger
und nach militärischen Begriffen kein achtbarer Officier
gewesen. Sollte einem österreichischen Schriftsteller verboten
ein, was einem Ansländer
im „Rosenmontag“ vor dem
Publicum des Burgtheaters
gestattet wird, ganz unbefangen
die jeder gesellschaftlichen Cla
se eigenen Fehler schildern zu
dürfen, ohne den Vorwurf
fürchten zu müssen, daß der
ganze Stand verletzt worden
ei? Zu welchen Folgerungen
führt diese Beschränkung der
künstlerischen Freiheit?
Die
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