ist es denn ein Dogma, daß der Lieutenant
unbedingt und unter allen Umständen ein Ausbund
sittlichen Ernstes, geistiger Vorzüge und tiefen Wissens
sein muß? Ist der Lieutenant unfehlbar?
Und — sagen wir es ehrlich — darf denn ein Lieutenant
von zwanzig Jahren, mit seiner frischgebackenen Offiziers¬
glorie nicht ein bischen kindisch, ein wenig outrirt schneidig
und gedankenlos sein? Macht der goldene Stern aus dem
zwanzigjährigen Springinsfeld denn einen Solon? Leidet
das Ansehen der Armee darunter, wenn man weiß und
sagt, daß ihre jungen Herren — jung sind? Muß das
ein Geheimniß bleiben? Wenn man diesen Gedankengang
weiter verfolgt, könnte man sogar zu der drolligen Ver¬
muthung kommen, daß der Ehrenrath Schnitzler, weil er
diesen oberflächlich=juvenilen Lientenant Gustl geschaffen,
wegen — „Verraths militärischer Geheim¬
nisse“ ausgestoßen hat!
Aber kehren wir zu den Schick salen des Lientenant
Gustl zurück. Mit dem Konzert find auch seine allgemeinen
Betrachtungen zu Ende und er drängt sich zur Garderobe.
Während er stößt und gestoßen wird, kommt er mit einem
alten Handwerksmeister in Konflikt. Gustl schimpft; der
Alte antwortet; Gusil greift an den Säbel; der Alte
kommt ihm zuvor, hält ihm Säbel und Hand fest und
sagt: „Wenn Sie nicht sehr schön ruhig sind, erzähl' ich
die Geschichte morgen dem Korpskommando!“ Der
Alte entfernt sich; Gustl nimmt mechanisch seine
Garderobe und geht. Er blickt in sein offenes Grab.
Als Offizier, dessen Waffe die Hand eines Anderen
in der Scheide zurückgehalten hat, ist er entehrt. Er muß
sich erschießen. Und so, im Angesicht des Todes wandelt
Lieutenant Gustl durch die Stadt. Er nächtigt im kühlen
Prater auf einer Bank. Unaufhörlich wälzen sich die
Gedanken durch seinen Kopf. Schließlich ist er mit sich und
dem Leben fertig. Er geht in sein Stammcafé frühstücken
— sein Henkersmahl. In diesem Lokal verkehrt aber auch
der alte Handwerksmeister, der ihn beleidigt hat. Und mit
dem Kaffee servirt der Kellner dem Lieutenant Gustl die
Nachricht, daß der Alte, vom Schlage gerührt, plötzlich
verschieben ist. Lieutenant Gustl lebt auf. Die Schatten des
nahenden Todes weichen von seiner Stirn: der Zeuge
seiner „Schande“ ist gestorben. Der Lieutenant darf weiter
leben! — Finita comedia!
Die Satire dieses Ausklanges ist deutlich und trifft.
Aber sie ist nicht leichtfertig, sondern tiefernst. Sie trifft
nicht die Armee, und wenn man will, nicht einmal den
militärischen Ehrbegriff. Sie zeigt nur, wie toll und
sonderbar das übermächtig waltende Schicksal mit uns
Menschen Ball spielt. Seine Rechnung mit dem Duell
und den giltigen Ehrbegriffen hat Schnitzler schon
lange im „Freiwild“ gemacht. Kein Ehrengericht wagte es,
deshalb einen Stein auf ihn zu werfen. Im „Lieutenant
Gustl“, dieser Schicksalsnovelle, ist der militärische Ehr¬
begriff nicht mehr und nicht weniger wie das Verhängniß,
das auf den Helden lauert. Dieser Ehrbegriff steht so ernst
und unverrückbar da wie die Erinnyenverfolgung in der
„Iphigenie". Hier erbarmen sich die seligen Götter des
dem Schicksal Verfallenen; den Gustl rettet ein barm¬
herziger Zufall. Hat der griechische Mythos etwa die
Geister der Rache verhöhnen wollen, weil Orest ihnen
schließlich doch entrinnt?
Kurz nachdem „Lieutenant Gustl“ erschienen war,
publizirte ein Wiener Militärblatt eine giftige Kritik.
Das Feuilleton wollte mit viel Grobheit, aber wenig
Beweiskraft den österreichischen Lieutenant vor Schnitzler
in Schutz nehmen. Schnitzler reagirte nicht darauf. Bei
der derzeit in der literarischen Kritik üblichen allerliebsten
Art der persönlichen Anflegelung müßten unsete Poeten
wahrhaftig narbenbedeckt umhergehen, wenn sie alle Grob¬
heiten ihrer Rezensenten mit Duellforderungen vergelten
wollten. Der geschätzteste Kritiker würde dann nicht der
sein, welcher die feinste Feder führt, das beste ästbetische
Ermessen hat, sondern der grimmigste Handegen auf
Säbel und Pistolen. Schnitzler antwortete auf das in
Rede stehende Angriffsfeuilleton nicht und überließ es der
Welt, zu richten. Dieser Tage erschien sein „Lieutenant
Gustl“ in Buchform und ungefähr zur gleichen Zeit stieß
ihn der Ehrenrath seines Regiments aus der Reihe der
Offiziere.
So haben wir denn zu den vielen Unfehlbarkeits¬
dogmen unseres öffentlichen Lebens ein neues bekommen:
die Infallibilität des Lieutenants.
* *
10. Leutnant Gustl
box 1/9
Telefon 12801.
Alex. Weigl’s Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
Ausschnitt
Nr. 76
„OBSERVEF
5##
I. österr. behördl. cone. Bureau für Zeitungsberichte u. Personalnachrichten
Wien, IX/1, Türkenstrasse 17.
— Filiale in Budapest: „Figyelé“
Vertretungen in Berlin, Chicago, Genf, London, Newyork, Paris, Rom, Stockholm.
Ausschnitt aus:
21% 1401
vom
Tagesneuigkeiten.
„Lientenant Gustl.
Ein ehrenräthliches Urtheil.
Der Wiener Schriftsteller Dr. Arthur Schnitzler,
welcher Oberarzt in Evidenz war, wurde vor Kurzem
von einem militärischen Ehrenrathe seiner Offizierscharge
verlustig erklärt. Dieser ehrenräthliche Richterspruch wird
damit motivirt, daß Dr. Schnitzler durch seine in
einem hiesigen Tagesjournal veröffentlichte novellistische
Für 50
inclusive
Studie unter dem Titel „Lieutenant Gustl“
100
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Porto.
Ehre des österreichischen Offizierskorps nahegetreten sei,
„ 200
Zahlbar
500
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und daß er weiter auf eine in heftigem und persön¬
m Voraus.
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lichem Tone geschriebene Kritik dieser schriftstellerischen
te ist das
Arbeit, die kurze Zeit nach der Veröffentlichung des
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Abonnemen
„Lieutenant Gustl“, gleichfalls in einem hiesigen Blatte
rn.
erschienen war, nicht reagirt habe.
Der Beschluß des Ehrenrathes, der die Thätigkeit
haltend die
Der
des Schriftstellers Dr. Schnitzler den nichtaktiven
Morgen¬
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Offizier Dr. Schnitzler entgelten läßt, wird zweifellos
r Zeitung“)
blätter
allgemein Befremden erregen. Das übliche ehrenräthliche
iche Leben
wodurch ein
Verfahren, das ja beianntlich während der jüngsten
ittheilungen
des In- un
Delegationsverhandlungen den Gegenstand eingehender
werden in
Besprechungen bildete, wird damit jedenfalls wieder in
den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gerückt.
Die novellistische Studie „Lieutenant Gustl“ wurde
zum erstenmale zu Weihnachten des Vorjahres publizirt
und hat seither in verschiedenen anderen Zeitschriften
Aufnahme gefunden. Der wesentliche Inhalt der
Studie ist folgender: Lieutenant Gustl hat im Konzert
ein Renkontre mit einem energischen Zivilisten. Es
kommt zu Injurien, der Lieutenant will den Säbel
ziehen, aber der Zivilist hindert ihn daran mit
#t Gustl vorbrinigt darauf eine
unbedingt und unter allen Umständen ein Ausbund
sittlichen Ernstes, geistiger Vorzüge und tiefen Wissens
sein muß? Ist der Lieutenant unfehlbar?
Und — sagen wir es ehrlich — darf denn ein Lieutenant
von zwanzig Jahren, mit seiner frischgebackenen Offiziers¬
glorie nicht ein bischen kindisch, ein wenig outrirt schneidig
und gedankenlos sein? Macht der goldene Stern aus dem
zwanzigjährigen Springinsfeld denn einen Solon? Leidet
das Ansehen der Armee darunter, wenn man weiß und
sagt, daß ihre jungen Herren — jung sind? Muß das
ein Geheimniß bleiben? Wenn man diesen Gedankengang
weiter verfolgt, könnte man sogar zu der drolligen Ver¬
muthung kommen, daß der Ehrenrath Schnitzler, weil er
diesen oberflächlich=juvenilen Lientenant Gustl geschaffen,
wegen — „Verraths militärischer Geheim¬
nisse“ ausgestoßen hat!
Aber kehren wir zu den Schick salen des Lientenant
Gustl zurück. Mit dem Konzert find auch seine allgemeinen
Betrachtungen zu Ende und er drängt sich zur Garderobe.
Während er stößt und gestoßen wird, kommt er mit einem
alten Handwerksmeister in Konflikt. Gustl schimpft; der
Alte antwortet; Gusil greift an den Säbel; der Alte
kommt ihm zuvor, hält ihm Säbel und Hand fest und
sagt: „Wenn Sie nicht sehr schön ruhig sind, erzähl' ich
die Geschichte morgen dem Korpskommando!“ Der
Alte entfernt sich; Gustl nimmt mechanisch seine
Garderobe und geht. Er blickt in sein offenes Grab.
Als Offizier, dessen Waffe die Hand eines Anderen
in der Scheide zurückgehalten hat, ist er entehrt. Er muß
sich erschießen. Und so, im Angesicht des Todes wandelt
Lieutenant Gustl durch die Stadt. Er nächtigt im kühlen
Prater auf einer Bank. Unaufhörlich wälzen sich die
Gedanken durch seinen Kopf. Schließlich ist er mit sich und
dem Leben fertig. Er geht in sein Stammcafé frühstücken
— sein Henkersmahl. In diesem Lokal verkehrt aber auch
der alte Handwerksmeister, der ihn beleidigt hat. Und mit
dem Kaffee servirt der Kellner dem Lieutenant Gustl die
Nachricht, daß der Alte, vom Schlage gerührt, plötzlich
verschieben ist. Lieutenant Gustl lebt auf. Die Schatten des
nahenden Todes weichen von seiner Stirn: der Zeuge
seiner „Schande“ ist gestorben. Der Lieutenant darf weiter
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Die Satire dieses Ausklanges ist deutlich und trifft.
Aber sie ist nicht leichtfertig, sondern tiefernst. Sie trifft
nicht die Armee, und wenn man will, nicht einmal den
militärischen Ehrbegriff. Sie zeigt nur, wie toll und
sonderbar das übermächtig waltende Schicksal mit uns
Menschen Ball spielt. Seine Rechnung mit dem Duell
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lange im „Freiwild“ gemacht. Kein Ehrengericht wagte es,
deshalb einen Stein auf ihn zu werfen. Im „Lieutenant
Gustl“, dieser Schicksalsnovelle, ist der militärische Ehr¬
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das auf den Helden lauert. Dieser Ehrbegriff steht so ernst
und unverrückbar da wie die Erinnyenverfolgung in der
„Iphigenie". Hier erbarmen sich die seligen Götter des
dem Schicksal Verfallenen; den Gustl rettet ein barm¬
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Geister der Rache verhöhnen wollen, weil Orest ihnen
schließlich doch entrinnt?
Kurz nachdem „Lieutenant Gustl“ erschienen war,
publizirte ein Wiener Militärblatt eine giftige Kritik.
Das Feuilleton wollte mit viel Grobheit, aber wenig
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in Schutz nehmen. Schnitzler reagirte nicht darauf. Bei
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wahrhaftig narbenbedeckt umhergehen, wenn sie alle Grob¬
heiten ihrer Rezensenten mit Duellforderungen vergelten
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sein, welcher die feinste Feder führt, das beste ästbetische
Ermessen hat, sondern der grimmigste Handegen auf
Säbel und Pistolen. Schnitzler antwortete auf das in
Rede stehende Angriffsfeuilleton nicht und überließ es der
Welt, zu richten. Dieser Tage erschien sein „Lieutenant
Gustl“ in Buchform und ungefähr zur gleichen Zeit stieß
ihn der Ehrenrath seines Regiments aus der Reihe der
Offiziere.
So haben wir denn zu den vielen Unfehlbarkeits¬
dogmen unseres öffentlichen Lebens ein neues bekommen:
die Infallibilität des Lieutenants.
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Wien, IX/1, Türkenstrasse 17.
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Vertretungen in Berlin, Chicago, Genf, London, Newyork, Paris, Rom, Stockholm.
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„Lientenant Gustl.
Ein ehrenräthliches Urtheil.
Der Wiener Schriftsteller Dr. Arthur Schnitzler,
welcher Oberarzt in Evidenz war, wurde vor Kurzem
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verlustig erklärt. Dieser ehrenräthliche Richterspruch wird
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einem hiesigen Tagesjournal veröffentlichte novellistische
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„ 1000
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des Schriftstellers Dr. Schnitzler den nichtaktiven
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ein Renkontre mit einem energischen Zivilisten. Es
kommt zu Injurien, der Lieutenant will den Säbel
ziehen, aber der Zivilist hindert ihn daran mit
#t Gustl vorbrinigt darauf eine