I, Erzählende Schriften 10, Lieutet Gustl. Novelle, Seite 204

10. Leutnant Gustl
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Ausschnitt aus: Vossisstes Teute
vom ?
71s07
Konzessionirte Standespoesie.
Der Fall des Berliner Konsistorialraths Reicke, der wegen seiner
Zugehörigkeit zum Goethe=Bunde und seiner dichterischen Thätige
keit strafweise in die Stadt der reinen Vernunft versetzt werden
sollte, hat dieser Tage ein Seitenstück in Wien erhalten. Dort
ist der Dichter Arthur Schnitzler, dessen literarisches Wirken nach
der allgemeinen, kaum von irgend einer Seite her bestrittenen
Meinung seinem Vaterlande zur Ehre gereicht und der nebenher
Regimentsarzt in der Reserve ist, von einem militärischen Ehren¬
gerichte des Offiziercharakters verlustig erklärt worden, weil an¬
geblich seine kürzlich erschienene Novelle „Leutnant Gustl“ die
Ehre des Offizierstandes verletzt habe. Die beiden Fälle sind ja
in manchem Betrachte verschieden; vor allem darin, daß in der einen
Sache der Auschluß an die weltliche Literatur überhaupt das An¬
stößige gewesen zu sein scheint, während in dem andern offenbar
inclusive
der besondere Juhalt der Dichtung Mißfallen bei militärischen
Porto.
Lesern erregt hat. Aber in beiden Fällen zeigt sich die wesentliche
Zahlbar
Uebereinstimmung, daß ein Dichter von der Berufsgenossenschaft

an die er mit festen oder lockeren Bauden geknüpft ist, wegen
Die Rovel Schnitzlers behaubeit ein Motiv, das nur im mil¬
seiner literarischen Thätigkeit, die mit dem fraglichen Berufe selbst
tärischen Milien möglich ist. Der Held — Leutnant Gustl — geräth
nichts zu schaffen hat, gemaßregelt werden soll. Der bedenkliche
nach einem Konzerte, das den ohnehin durch allerhand Umstände
Zug unserer Zeit, die Gliederung der Stände bis zur Sekten¬
Erregten nervös gemacht hat, an der Garderobe in Streit mit
bildung zu verschärfen, zieht in beiden Fällen die schöne Literatur
den drängenden Nachbarn, bedient sich — gegen seine sonstige
die bislang weder als eine militärische noch als eine priester¬
Gewohnheit — aufreizend starker Ausdrücke und wird daraufhin
liche Angelegenheit betrachtet wurde, mit auffälliger Heftig¬
von einem Zivilisten in einer Art und Weise, die keine Genug¬
keit in seinen Bereich. Die Hüter der Standesehre versuchen zu
thnung zuläßt, insultirt. Der Beleidiger, ein riesenstarker Bäcker¬
diktixen, in wie weit, oder an welchen Motiven ein Standes¬
meister, hält nämlich mit der Rechten den Griff des Degens
genosse seine literarische Kraft erproben darf, wenn er nicht Ge¬
est, während er dem Offizier die herabsetzenden und
fahr aufen will, der Maßregelung oder der Ausschließung zu
drohenden Worte zuflüstert. Sofortige Abwehr ist physisch
vers in. Die beiden Fälle sind gleichsam öffentliche Warnungen,
unmöglich; nachträglich dem Davonziehenden in den Rücken zu
sich Firgend einem Gebiete in ein freies geistiges Verhältniß
allen, wäre schimpflich — der Leutnant bleibt in einer furchtbaren
zur fallgemeinheit zu setzen, wenn man einem vom Staate aner¬
Betäubung zurück und sieht, da er sich zu sammeln versucht,
kannten Stande angehort. Dadurch aber erhalten sie über die
keinen andern Ausweg, als den Seibst#ord. Den Tod vor
mißliche Bedrängung einzelner Personen hinaus die Bedeutung
Augen, den sein junger leichtfertiger Sinn kaum zu fassen vermag,
einer öffentlichen Gefahr, die sowohl die einzelnen Stände sowie
irrt er die ganze Nacht umher, besucht am frühen Morgen — in
die aus diesen Ständen bestehende Allgemeinheit angeht. In dieser
der Meinung, zum letzten Male zu frühstücken — sein Stamm¬
Einengung der persönlichen Freiheit, sich künstlerisch zu bethätigen,
Café und erfährt, daß jener Bäckermeister um Mitternacht in
liegt ein Versuch, die Geschichte weit zurückzuschrauben, noch hinter
Folge eines Schlaganfalls gestorben ist. Daraufhin beschließt er,
jene bald zweihundert Jahre von uns entfernte Zeit, in der das
weiterzuleben, obgleich ihm vorher selbst für den Fall,
Dichten bei Standespersonen als eine bedenkliche Nebenb. schäfti¬
daß das peisliche Ereigniß Gehelmniß bleiben sollte, das
gung angesehen wurde, für die man Nachsicht zu erbitten pflegte.
Leben unerträglich erschienen war. Das Urtheil über diesen Ent¬
Heute neigt man zu größerer Härte als in jenen Gottschedischen
schluß wie über den Helden überhaupt hat der feine Künstker, der
Tagen, in deuen es für eine Herablassung galt, wenn ein Raths¬
in Forra eines Monologs die Seelenzustände des Gepeinigten
herr sich mit der Literatur beschäftigte. Heute sitzt die Genossen¬
darstellt, vollkommen fref gegeben. Es handelt sich um eine psycho¬
schaft zu Gericht darüber, ob die Dichtung ihres Angehörigen
ogische Studie auf Grund des militärischen Milleus, wie in
standesgemäß befunden wird und verhängt schwere Urtheile, wenn
Heyses „Ehrenschulden“ in Hartlebens „Rosenmontag“, in
die derzeitigen Vertreter des Standes ein Haar in der Presie
Schnitzlers „Freiwild“ in Sudermanns „Fritzchen“ und in un¬
finden.
zähligen anderen Dichtungen. Leutnant Gustl ist nichts weüsger
Der Begriff der Standesehre wird verschiedenartig aufgefaßt.
als ein Mustermeusch, er ist sinnlich, oberflächlich, genußsüchtig
Vollkommen frei denkende Menschen kennen nur eine außere Ehre:
und mangelhaft gebildet — aber er hat auch bessere
den redlich erworbenen Ruf der von der ganzen sittlichen Welt
Regungen, die sich im Hinblick auf den nahen Tod ver¬
anerkannten Rechtschaffenheit; aber auch sie geben ohne weiteres
stärken und der kategorische Imperativ der Pflicht, wie er
zu, daß sich bei der Besonderheit der Fälle und Beziehungen in
diese eben zu fassen vermag, ist nicht ohne Kraft in ihm — er
den verschiedenen Berufen besondere Gesetze des ehrenvollen
ist eben eine Individualität, ein Mensch im Lentnantsrock. Zu¬
Verhaltens aus der allgemeinen Norm ergeben können. Ihering
gegeben: die Schattenseiten sind überwiegend, wie es das künst¬
nannte einmal das Wachsthum gesetzlicher Vorschriften, das
sich
lerische Motiv hier nun einmal gefordert hat — so handelt es
an immerenen auftauchende Bedürfnisse der Gesellschaft anschlicßt,
ich dabei doch nur um eine scharf umschriebene Persönlichkeit und
„die
Pocsie des Rechts.“ Daß es auch eine solche
nicht um den Stand, der lediglich die Voraussetzungen des Kon¬
Poesie des Gewohnheitsrechtes in jedem Stande geben kann,
liktes giebt. Das Büchlein ist weder zur Ehre, noch zur Unehre
wirk von keiner Seite in Abrede gestellt. Nicht nur Prieste
des Militärstandes geschrieben — es ist, wie jede ernste Dichtung,
und Soldaten, auch Kauf= und Gewerbsleute, auch Inristen und
ein konzentrirtes Stück Leben, in dem eine Natur und eine
Aerzte, auch Künstler und Schriftsteller haben ihre besonderen
Lebensfrage hart aneinander gerathen. Diejen
n,
uch
Normen des Verhaltens herausgebildet, an deren Einhaltung die
Autor zu verurtheilen und zu strafen versuchten, sin
Achtung des ganzen Standes geknüpft ist. Und ob man nun diese
austößig, daß ein militärisches Individuum
n
Vorschriften auf ein einheitliches sittliches Prinzip zurückführt,
Schwäche von einem Manne, der dem A
oder wie es die Mehrheit einzelner Stände thut, als eine mit
hört, dargestell
ir