I, Erzählende Schriften 9, Der blinde Geronimo und sein Bruder, Seite 13

„die Welt=Literatur“ 1917 Nr. 19 Arthur Schnitzler: Der bilnde 6eronimo und sein brucker Der Ehrentag
G
„Nun geht endlich! Was hat es für einen
„Gehen wir schon?“ fragte Geronimo.
Der Ehrentag
Sinn, auf der Straße stehen zu bleiben! Die
„Wir wollen doch heut Mittag in Boladore
Sonne brennt. In einer Stunde sind wir an
sein, im „Hirschen“ halten die Wagen Mittags¬
1.
Ort und Stelle. Vorwärts!“
rast; es ist ein guter Ort.“
Carlo berührte den Arm Geronimos wie
August Witte saß schon eine halbe Stunde
Und sie gingen. Der Friseur Benozzi stand
immer, und so gingen sie langsam weiter, der
im Kaffeehaus und hatte eine Menge Zeitungen
rauchend vor seinem Laden. „Guten Morgen,
Gendarm hinter ihnen.
vor sich liegen, die er nicht anschaute als endlich
rief er. „Nun, wie sieht's da oben aus? Heut
Emerich Berger in großer Hast erschien.
Nacht hat es wohl geschneit?“
„Carlo, warum redest du nicht?“ fragte Gero¬
„Na also,“ rief ihm August entgegen, „kommst
„Ja, ja,“ sagte Carlo und beschleunigte seine
nimo wieder.
du endlich. Es ist wirklich die höchste Zeit. Alles
Schritte.
„Aber was willst du, Geronimo, was soll ich
läßt du einen allein machen.“
ich
Das Dorf lag hinter ihnen, weiß dehnte sich
Es wird sich alles herausstellen;
sagen?
„Pardon,“ sagte Emerich, indem er sich nieder¬
die Straße zwischen Wiesen und Weinbergen,
weiß selber nicht
setzte, „ich hab' noch einen Besuch machen müssen,
dem rauschenden Fluß entlang. Der Himmel
Und es ging ihm durch den Kopf: „Soll ich's
— ich hab'
da bin ich so schwer fortgekommen
war blau und still. „Warum hab' ich's getan?
ihm erklären, eh wir vor Gericht stehen?
doch hoffentlich nichts versäumt? Ist doch schon
dachte Carlo. Er blickte den Blinden von der
Es geht wohl nicht. Der Gendarm hört
alles arrangiert?“
Seite an. „Sieht sein Gesicht denn anders aus
Nun, was tut's. Vor Gericht werd' ich
zu
— immer
„Gewiß,“ antwortete August mit leichtem
als sonst? Immer hat er es geglaubt
ja doch die Wahrheit sagen. „Herr Richter,
wie
bin ich allein gewesen — und immer hat er mich
Stirnrunzeln — „zum Glück bin ich ja da.
werd' ich sagen, „es ist doch kein Diebstahl
Und
gehaßt.“ Und ihm war, als schritte er unter
ein anderer. Es war nämlich so:
„Also ist eigentlich nichts mehr zu tun, bevor
einer schweren Last weiter die er doch niemals
nun mühte er sich, die Worte zu finden, um vor
die Geschichte angeht!“
von den Schultern werfen dürfte, und als könnte
Gericht die Sache klar und verständlich darzu¬
„Jetzt nichts mehr. Ich hab' mir nur noch
er die Nacht sehen, durch die Geronimo an seiner
stellen. „Da fuhr gestern ein Herr über den
den Dobrdal herbestellt, um ihm die letzten In¬
Seite schritt, während die Sonne leuchtend auf
sein
es mag ein Irrsinniger gewesen
1
Paß
struktionen zu geben.“
und
allen Wegen lag.
oder am End' hat er sich nur geirrt ...
„Daher — hast du den Dobrdal bestellt?“
dieser Mann ...
Und sie gingen weiter, gingen, gingen stunden¬
„Warum denn nicht? Er sieht sehr anständig
lang. Von Zeit zu Zeit setzte sich Geronimo
Aber was für ein Unsinn! Wer wird es
aus. Und dann weiß doch ein jeder, daß er nicht
auf einen Meilenstein, oder sie lehnten beide an
glauben? ... Man wird ihn gar nicht so lange
zu uns gehört.“
einem Brückengeländer, um zu rasten. Wieder
reden lassen. — Niemand kann diese dumme Ge¬
Emerich nickte zustimmend, dann fragte er:
kamen sie durch ein Dorf. Vor dem Wirtshause
.. nicht einmal Geronimo
schichte glauben
„Was ist es denn mit den Lorbeerkränzen?“
standen Wagen, Reisende waren ausgestiegen
Und er sah ihn von der Seite
* *
glaubt sie
und gingen hin und her; aber die beiden Bettler
an. Der Kopf des Blinden bewegte sich nach
„Sind schon ins Theater geschafft.“
blieben nicht. Wieder hinaus auf die offene
alter Gewohnheit während des Gehens wie im
„Na, da ist ja alles in schönster Ordnung.
Straße. Die Sonne stieg immer höher; Mittag
Takte auf und ab, aber das Gesicht war regungs¬
Und außer uns weiß keiner was davon, nicht
mußte nahe sein. Es war ein Tag wie tausend
los, und die leeren Augen stierten in die Luft.
wahr?“
andere.
Und Carlo wußte plötzlich, was für Gedanken
„Niemand. Dem Fred werden wir's aller¬
... „So also stehen
hinter dieser Stirne liefen
„Der Turm von Boladore,“ sagte Geronimo.
dings noch sagen, weil er ja mit uns in die Loge
die Dinge, mußte Geronimo wohl denken.
Carlo blickte auf. Er wunderte sich, wie genau
geht.
Carlo bestiehlt nicht nur mich, auch die anderen
Geronimo die Entfernungen berechnen konnte:
Emerich schüttelte den Kopf.
Nun, er hat es gut, er
Leute bestiehlt er ...
wirklich war der Turm von Boladore am Hori¬
*
Glaubst nicht, wir sollten den Fred auch
hat Augen, die sehen, und er nützt sie aus
zont erschienen. Noch von ziemlich weither kam

lieber .. überraschen?“
Ja, das denkt Geronimo ganz gewiß
ihnen jemand entgegen. Es schien Carlo, als sei
Und auch, daß man kein Geld bei mir finden
er am Wege gesessen und plötzlich aufgestanden.
„Ja, warum denn?“
— nicht vor Ge¬
wird, kann mir nicht helfen,
Die Gestalt kam näher. Jetzt sah Carlo, daß es
„Weißt, ich mein' nur der Fred ist manchmal
richt, nicht vor Geronimo. Sie werden mich ein¬
ein Gendarm war, wie er ihnen so oft auf der
so komisch; der ist am End' dagegen.“
.. . Ja, ihn geradeso wie mich,
sperren und ihn
Landstraße begegnete. Trotzdem schrak Carlo
„Da kann ich ihm nicht helfen. Wir werden
— Und er konnte
denn er hat ja das Geldstück.
leicht zusammen. Aber als der Mann näher
uns wohl noch einen Spaß erlauben dürfen.
nicht mehr weiter denken, er fühlte sich so sehr
Es
kam, erkannte er ihn und war beruhigt.
Und die Verantwortung haben doch wir allein,
verwirrt. Es schien ihm, als verstünde er über¬
die
war Pietro Tenelli; erst im Mai waren
was?“
haupt nichts mehr von der ganzen Sache, und
beiden Bettler im Wirtshaus des Raggazzi
„Freilich. Du allein.“
wußte nur eines: daß er sich gern auf ein Jahr
Morignone mit ihm zusammen gesessen, und er
in den Arrest setzen ließe ... oder auf zehn,
hatte ihnen eine schauerliche Geschichte erzählt,
„Jawohl, ich allein. Auf so einen originellen
wenn nur Geronimo wüßte, daß er für ihn
wie er von einem Strolch einmal beinahe er¬
Einfall wär' sowieso keiner von euch gekommen.“
allein zum Dieb geworden war.
dolcht worden war.
„Freilich.“ lächelte Emerich, „aber irgendwie
„Es ist einer stehen geblieben,“ sagte Gero¬
steckt die Blandini dahinter, da möcht' ich drauf
Und plötzlich blieb Geronimo stehen, so daß
nimo.
wetten .. . und zwar glaub' ich
auch Carlo innehalten mußte.
„Tenelli, der Gendarm,“ sagte Carlo.
„Nun, was ist denn?“ sagte der Gendarm
In diesem Augenblick begegnete er einem
herangekommen.
Nun waren sie an ihn
strengen Blicke Augusts, und statt weiterzu¬
ärgerlich. „Vorwärts, vorwärts!“ Aber da sah
sprechen, neigte er verlegen den Kopf hin und
er mit Verwunderung, daß der Blinde die
Tenelli,“ sagte Carlo
„Guten Morgen, Herr
her, warf ein Stück Zucker in den Kaffee und
Gitarre auf den Boden fallen ließ, seine Arme
und blieb vor ihm stehen.
begann leise zu pfeifen.
erhob und mit beiden Händen nach den Wangen
„Es ist nun einmal so,“ sagte der Gendarm,
seines Bruders tastete. Dann näherte er seine
„Grüß euch Gott,“ sagte Fred, der eben herein¬
„ich muß euch vorläufig beide auf den Posten
Lippen dem Munde Carlos, der zuerst nicht
getreten war, und reichte den beiden anderen
nach Boladore führen.“
wußte, wie ihm geschah, und küßte ihn.
jungen Leuten die Hand. „Ich danke dir sehr
„Eh!“ rief der Blinde.
für das Logenbillett,“ wandte er sich zu August,
„Seid ihr verrückt?“ fragte der Gendarm.
Carlo wurde blaß. „Wie ist das nur mög¬
„nur möcht' ich mir die Frage erlauben: warum
„Vorwärts! vorwärts! Ich habe keine Lust, zu
lich? dachte er. „Aber es kann sich nicht darauf
geh'n wir denn noch einmal in diese irrsinnige
braten.
beziehen. Man kann es ja hier unten noch nicht
Operette?“
Geronimo hob die Gitarre vom Boden auf,
wissen.“
„Wirst gleich hören,“ erwiderte August; „da
ohne ein Wort zu sprechen. Carlo atmete tief
„Es scheint ja euer Weg zu sein,“ sagte der
ist übrigens der Herr Dobrdal.“
auf und legte die Hand wieder auf den Arm des
Gendarm lachend, „es macht euch wohl nichts,
„Wer?“ fragte Fred.
Blinden. War es denn möglich? Der Bruder
wenn ihr mitgeht.“
zürnte ihm nicht mehr? Er begriff am Ende¬
„Sie, Marqueur“ rief August, „seh'n Sie den
„Warum rebest du nichts, Carlo?“ fragte
Und zweifelnd sah er ihn von der Seite an.
Herrn der dort beim Billard steht und grad'
Geronimo.
den Franz was fragt? Rufen Sie ihn daher
„Vorwärts!“ schrie der Gendarm. „Wollt
Ich bitte, Herr Gendarm,
* *
O ja, ich rede
zu uns.“
—!“ Und er gab Carlo eins zwischen
ihr endlich
was sollen wir

wie ist es denn möglich
„Dobrdal?“ wandte sich Fred fragend an Eme¬
die Rippen.
oder vielmehr, was soll ich ...
*
denn
rich. „Was bedeutet das? Wer ist Dobrdal?“
Und Carlo, mit festem Druck den Arm des
wahrhaftig, ich weiß nicht
Er
Blinden leitend, ging wieder vorwärts.
Emerich wies mit den Augen auf den Herrn,
„Es ist nun einmal so. Vielleicht bist du auch
schlug einen viel rascheren Schritt ein als früher.
welcher, vom Kellner an den Tisch der jungen
unschuldig. Was weiß ich. Jedenfalls haben
Denn er sah Geronimo lächeln in einer milden
Leute gewiesen, eben herzutrat und sich ver¬
wir die telegraphische Anzeige ans Kommando
glücksetigen Art wie er es seit den Kinderjahren
beugte.
bekommen, daß wir euch aufhalten sollen, weil
nicht mehr an ihm gesehen hatte. Und Carlo
ihr verdächtig seid, dringend verdächtig, da oben
Es
war ein kleiner Mann in braunem
lächelte auch. Ihm war, als könnte ihm jetzt
den Leuten Geld gestohlen zu haben. Nun es
Ein
Mentschikoff und mit einer Pelzmütze.
nichts Schlimmes mehr geschehen — weder vor
ist auch möglich, daß ihr unschuldig seid. Also
Zwicker baumelte ihm vorn an einem Bande
Gericht, noch sonst irgendwo auf der Welt.
vorwärts!“
hin und her.
Er hatte seinen Bruder wieder ... Nein, er
„Warum sprichst du nichts, Carlo?“ fragte
„Guten
August nickte ihm herablassend zu.
hatte ihn zum erstenmal ...
Geronimo.
Abend, Herr Dobrdal, lassen Sie sich vielleicht
*
etwas geben?“
o ja, ich rede ...“
„Ich rede -