8. Die Toten schweie
box 1/6
Shagn
Schlesteung, Breslas
2 3. 001 903
[Freie literarische Vereinigung.] Zum ersten dieswinterlichen
Ertragsabend der freien literarischen Vereinigung, der am
d. M. im Saale der „Gesellschaft der Freunde“ stattfand, wur als
irleser der den Mitgliedern der „Vereinigung“ schon von einer früheren
astrolle her auch persönlich bekannte Schriftsteller Hermann Bahr
s Wien erschienen. Er trug eigene und fremde Arbeiten „jung¬
sienerischen“ Gepräges vor und begann mit einer psychologisch sehr fein
burchgearbeiteten Erzählung von Arthur Die Toten
schweigen.“ Die Gattin eines Wiener Gelehrten hat ein Stelldichein mit
einem Liebhaber, und um nicht etwa von Bekannten gesehen zu werden,
fährt das Paar in einem Fiaker vors Vor hinaus. Der Kutscher ist be¬
trunken, und draußen auf der Landstraße prallt der schlecht gekenkte Wagen
gegen einen Wegstein und wirft um. Als die Dame das Bewußtseit
wiedererlangt, findet sie sich selbst unverletzt, aber neben ihr liegt der Geliebte
mit blutendem Haupte und offenbar schon entseelt. Sie sendet den Kutscher
um Hilfe nach den nächsten Häusern und bleibt allein bei der Leiche zurück.
Doch jetzt kommt ihr auch der Gedanke: wie, wenn man sie, die ver¬
heirathete Frau, in dieser Situation fände und fragte! Sie wäre verloren
und dem Toten kann sie doch nichts mehr nützen. So läßt sie schließzlich
den Leichnam allein im Finstern am Wegrande liegen und flieht zur Stadt
zurück. Es glückt ihr auch, unentdeckt ihr Heim zu erreichen und rechtzeitig die
äußeren Spuren des Unfalles zu beseitigen. Nun hat sie das Gefühl einer
großen Ermattung; der Gatte, dem sie hermlos lächelnd gegenübertritt,
merkt nichts - und „die Toten schweigen“. Vorzüglich geschildert ist der
diese letzten Vorgänge begleitende Konflikt in der Seele des Weibes, der
Kampf zwischen dem sich ihr immer wieder aufdrängenden Gefühl, daß sie
feig und erbärmlich handelt, und der Angst vor den Folgen einer Ent¬
deckung ihres Abenteuers und den nüchtern=praktischen Erwagungen. Der
Hörer oder Leser hat hier bereits vollkommen den Eindruck, daß diese
Frau ihrer Strafe nicht entgeht, daß die Erinnerung an ihre feige Flucht
ihr unauslöschlich und eine ewige Selbstpein bleiben wird. Aber die Er¬
zählung geht noch weiter. In der Frau wirkt die feelische Er¬
schütterung derart nach, daß sie alsbald durch ihr Benehmer und
ein
der Selbstvergessenheit gesprochenes Wort den Verdacht
des Gatten erregt; er beginnt zu erraten und zu forschen, und
schließlich fühlt sie selbst sich zum Geständnis der vollen Wahrheit ge¬
trieben. Damit kommt denn auch die landläufige bürgerliche Moral zu
ihrem Rechte
aber der künstlerische Höhepunkt, das Gefühl der
poetischen Gerechtigkeit war doch schon vorher erreicht, und so wirkt dieser
Schlußakt nur konventionell und als ästhetische Abflachung. Die Recitation
an sich war vortrefflich, nur vielleicht stellenweise in anbetracht der Größe
des Saales zu leise. Als zweites Stück brachte Bahr eine amüsante, aber
Fedeutungslose Humoreske von Felix Dörmann „Wie man Ministe
ngt“, und zuletzt las er eigene Schöpfungen: eine witzige klein
Satire „Das Talent“ und eine sehr interessante novellistische Episod
8## Käferl“. Da bei Bahrs Vortragsweise jedes ernste und heite
Moment, jede Dialogpointe voll zur Geltung kam, wirkte die ganze Vo
lesung, zumal sie nicht gerade lange dauerte und die Empfänglichkeit dr
Hörer nicht erschöpft wurde, ungemein fesselnd und anregend. Dem
Vortragenden wurde daher auch diesmal wieder lebhafter und aufrichtiger
Beifall Atett.
Due lenanen be ohne Gewähr.)
WIENER ABENÖPCST
Ausschnitt aus:
7
vom:
EIERIS
(Grillparzer=Gesellschaft.) Gestern abend gab ein
Vortragsabend der Grillparzer=Gesellschaft einem ungemein
zahlreich erschienenen Publikum die erwünschte Gelegenheit,
20
Frau Patharina Schratt wieder einmal am Vorlesetische
begrüßen zu dürfen. Die Künstlerin las zunächst Artur
2.
Schnitzlers Novelle „Die Toten schweigen“, ein Glanzstück
feinster Seelenmalerei, das aber seine stärkste Wirkung in der
8
Lektüre übt. Frau Schratt widerstand der Versuchung,
theatralische Effekte anzustreben, die in der Dichtung nicht
gelegen sind, und hielt die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft
8
durch den maßvollen, verständnisreichen Vortrag bis zum
Schlusse fest. Daß aber der Humor, insbesondere der des
Dialekts, die eigenste Domäne der Künstlerin ist, zeigte die
jubelnde Aufnahme, die einer Skizze von Chiavacci sowie
mundartlichen Dichtungen von Stelzhamer, Schadek und
Fraungruber zuteil wurhe. — Unter den Anwesenden
befanden sich Ihre Exzellenzen die Herren Minister für
Kultus und Unterricht Dr. Ritter von Hartel und Graf
Lanckoronski.
21- le.
Telephon 12891.
„OBSERVER
I. österr. behördl. konz. Uniernehmen für Zeilungs-Ausschnitte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Pudapest, Chicago, Christiania, Genf, Kepenhagen,
London, Madrid, Mailand, Minneapolis, New-Vork, Paris, Rom,
San Franciscö, Stockholm, St. Petersburg.
(Quelienangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus: Neues Wiener Tagblatt
vom:
LMRTDS
Knnnn
* (Frau Schratt am Vorlesetische.) Die Grill¬
parzer=Gesellschaft hatte gestern wieder einmal einen Glanz¬
abend: Frau Katharina Schratt, die man in dieser
Saison auf keiner Wiener Bühne zu Gesichte bekam, er¬
schien am Vorlesetische, und das Wiener Puolikum ließ sich
auch vom ausnehmend schlechten Wetter nicht abhalten, in
hellen Scharen in den Festsaal des Ingenieur= und
Architektenvereines zu strömen, um das so selten gewordene
Vergnügen zu genießen, Frau Schratt zu sehen und zu
hören. Unter den Anwesenden bemeriten wir unter
anderen: Unterrichtsminister Dr. p. Hartel, Graf
Lanckoronski und Gemahlin, Hofrat Professor
Dr. Theodor Gomperz und Hofschauspieler Lewinsky.
Frau Schratt, prächtig aussehend, war bei bester
Stimmung und las beinahe volle zwei Stunden. Alle
Register ihrer Kunst ließ sie springen: die vornehme Burg¬
schauspielerin und die ursprüngliche Volksschauspielerin
kamen im Hochdeutsch und im Dialekt der mit glücklichem
Geschmacke ausgewählten Stücke zur Geltung. Die herbe
Anmut dieser Künstlerin reicht in ihrer künstlerischen
Spannweite vom Tragischen durchs heiter Beistreiche bis
zum Burleskkomischen, und man wäre in Verlegenheit, zu
sagen, was ihr besser darzustellen gelang: die qualvolle Ge¬
wissensangst einer sündigenden und sich selbst ver¬
urteilenden Dame aus den wohlhabenden und gebildeten
Gesellschaftskreisen in der tragischen Satire „Die Toten
schweigen“ von Arthur Schnitzler oder die keifende Ge¬
schwätzigkeit einer Klatschbase aus der Wiener Vorstadt in
einer der wirksamsten Humoresken Chiavaccis
„Kommen S' bald wieder!" Jedes dieser Stücke las Frau
Schratt in seiner Art mit einer aus dem Innern quellenden
Kraft vor. Den Uebergang von Schnitzlers poesievollem
Seelengemälde zur Humoreske bildete zunächst die zwischen
Ernst und Heiterkeit spielende Reisegeschichte aus Italien
„Ja oder Nein?“ von Hevesi und dann „Eine dumme
Geschichte“ von Marie v. Ebner=Eschenbach, eines
der geistvollsten Produkte unserer Dichterin. Es dürfte wohl
keiner der vielen Dichterinnen, die sich für die Frauenrechte
einsetzten, gelungen sein, so knapp und so gescheit zugleich
die Geschichte der Frauen in der Kultur darzustellen, wie
der Ebner in dieser weisen „Dummen Geschichte“. Nun trug
Frau Schratt Chiavaccis Humoreske mit allermunterster
Wirkung vor und hierauf noch eine Reihe von Gedichten im
niederösterreichischen Dialekt von Stelzhamer,
Schadek und Fraungruber; einen liebens¬
würdigeren Abschluß konnte sie dem Abend nicht verleihen
und das Publikum gab seinem warmen Danke in lang¬
anhaltendem Beifalle Ausdruck.
box 1/6
Shagn
Schlesteung, Breslas
2 3. 001 903
[Freie literarische Vereinigung.] Zum ersten dieswinterlichen
Ertragsabend der freien literarischen Vereinigung, der am
d. M. im Saale der „Gesellschaft der Freunde“ stattfand, wur als
irleser der den Mitgliedern der „Vereinigung“ schon von einer früheren
astrolle her auch persönlich bekannte Schriftsteller Hermann Bahr
s Wien erschienen. Er trug eigene und fremde Arbeiten „jung¬
sienerischen“ Gepräges vor und begann mit einer psychologisch sehr fein
burchgearbeiteten Erzählung von Arthur Die Toten
schweigen.“ Die Gattin eines Wiener Gelehrten hat ein Stelldichein mit
einem Liebhaber, und um nicht etwa von Bekannten gesehen zu werden,
fährt das Paar in einem Fiaker vors Vor hinaus. Der Kutscher ist be¬
trunken, und draußen auf der Landstraße prallt der schlecht gekenkte Wagen
gegen einen Wegstein und wirft um. Als die Dame das Bewußtseit
wiedererlangt, findet sie sich selbst unverletzt, aber neben ihr liegt der Geliebte
mit blutendem Haupte und offenbar schon entseelt. Sie sendet den Kutscher
um Hilfe nach den nächsten Häusern und bleibt allein bei der Leiche zurück.
Doch jetzt kommt ihr auch der Gedanke: wie, wenn man sie, die ver¬
heirathete Frau, in dieser Situation fände und fragte! Sie wäre verloren
und dem Toten kann sie doch nichts mehr nützen. So läßt sie schließzlich
den Leichnam allein im Finstern am Wegrande liegen und flieht zur Stadt
zurück. Es glückt ihr auch, unentdeckt ihr Heim zu erreichen und rechtzeitig die
äußeren Spuren des Unfalles zu beseitigen. Nun hat sie das Gefühl einer
großen Ermattung; der Gatte, dem sie hermlos lächelnd gegenübertritt,
merkt nichts - und „die Toten schweigen“. Vorzüglich geschildert ist der
diese letzten Vorgänge begleitende Konflikt in der Seele des Weibes, der
Kampf zwischen dem sich ihr immer wieder aufdrängenden Gefühl, daß sie
feig und erbärmlich handelt, und der Angst vor den Folgen einer Ent¬
deckung ihres Abenteuers und den nüchtern=praktischen Erwagungen. Der
Hörer oder Leser hat hier bereits vollkommen den Eindruck, daß diese
Frau ihrer Strafe nicht entgeht, daß die Erinnerung an ihre feige Flucht
ihr unauslöschlich und eine ewige Selbstpein bleiben wird. Aber die Er¬
zählung geht noch weiter. In der Frau wirkt die feelische Er¬
schütterung derart nach, daß sie alsbald durch ihr Benehmer und
ein
der Selbstvergessenheit gesprochenes Wort den Verdacht
des Gatten erregt; er beginnt zu erraten und zu forschen, und
schließlich fühlt sie selbst sich zum Geständnis der vollen Wahrheit ge¬
trieben. Damit kommt denn auch die landläufige bürgerliche Moral zu
ihrem Rechte
aber der künstlerische Höhepunkt, das Gefühl der
poetischen Gerechtigkeit war doch schon vorher erreicht, und so wirkt dieser
Schlußakt nur konventionell und als ästhetische Abflachung. Die Recitation
an sich war vortrefflich, nur vielleicht stellenweise in anbetracht der Größe
des Saales zu leise. Als zweites Stück brachte Bahr eine amüsante, aber
Fedeutungslose Humoreske von Felix Dörmann „Wie man Ministe
ngt“, und zuletzt las er eigene Schöpfungen: eine witzige klein
Satire „Das Talent“ und eine sehr interessante novellistische Episod
8## Käferl“. Da bei Bahrs Vortragsweise jedes ernste und heite
Moment, jede Dialogpointe voll zur Geltung kam, wirkte die ganze Vo
lesung, zumal sie nicht gerade lange dauerte und die Empfänglichkeit dr
Hörer nicht erschöpft wurde, ungemein fesselnd und anregend. Dem
Vortragenden wurde daher auch diesmal wieder lebhafter und aufrichtiger
Beifall Atett.
Due lenanen be ohne Gewähr.)
WIENER ABENÖPCST
Ausschnitt aus:
7
vom:
EIERIS
(Grillparzer=Gesellschaft.) Gestern abend gab ein
Vortragsabend der Grillparzer=Gesellschaft einem ungemein
zahlreich erschienenen Publikum die erwünschte Gelegenheit,
20
Frau Patharina Schratt wieder einmal am Vorlesetische
begrüßen zu dürfen. Die Künstlerin las zunächst Artur
2.
Schnitzlers Novelle „Die Toten schweigen“, ein Glanzstück
feinster Seelenmalerei, das aber seine stärkste Wirkung in der
8
Lektüre übt. Frau Schratt widerstand der Versuchung,
theatralische Effekte anzustreben, die in der Dichtung nicht
gelegen sind, und hielt die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft
8
durch den maßvollen, verständnisreichen Vortrag bis zum
Schlusse fest. Daß aber der Humor, insbesondere der des
Dialekts, die eigenste Domäne der Künstlerin ist, zeigte die
jubelnde Aufnahme, die einer Skizze von Chiavacci sowie
mundartlichen Dichtungen von Stelzhamer, Schadek und
Fraungruber zuteil wurhe. — Unter den Anwesenden
befanden sich Ihre Exzellenzen die Herren Minister für
Kultus und Unterricht Dr. Ritter von Hartel und Graf
Lanckoronski.
21- le.
Telephon 12891.
„OBSERVER
I. österr. behördl. konz. Uniernehmen für Zeilungs-Ausschnitte
Wien, I., Concordiaplatz 4.
Vertretungen
in Berlin, Pudapest, Chicago, Christiania, Genf, Kepenhagen,
London, Madrid, Mailand, Minneapolis, New-Vork, Paris, Rom,
San Franciscö, Stockholm, St. Petersburg.
(Quelienangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus: Neues Wiener Tagblatt
vom:
LMRTDS
Knnnn
* (Frau Schratt am Vorlesetische.) Die Grill¬
parzer=Gesellschaft hatte gestern wieder einmal einen Glanz¬
abend: Frau Katharina Schratt, die man in dieser
Saison auf keiner Wiener Bühne zu Gesichte bekam, er¬
schien am Vorlesetische, und das Wiener Puolikum ließ sich
auch vom ausnehmend schlechten Wetter nicht abhalten, in
hellen Scharen in den Festsaal des Ingenieur= und
Architektenvereines zu strömen, um das so selten gewordene
Vergnügen zu genießen, Frau Schratt zu sehen und zu
hören. Unter den Anwesenden bemeriten wir unter
anderen: Unterrichtsminister Dr. p. Hartel, Graf
Lanckoronski und Gemahlin, Hofrat Professor
Dr. Theodor Gomperz und Hofschauspieler Lewinsky.
Frau Schratt, prächtig aussehend, war bei bester
Stimmung und las beinahe volle zwei Stunden. Alle
Register ihrer Kunst ließ sie springen: die vornehme Burg¬
schauspielerin und die ursprüngliche Volksschauspielerin
kamen im Hochdeutsch und im Dialekt der mit glücklichem
Geschmacke ausgewählten Stücke zur Geltung. Die herbe
Anmut dieser Künstlerin reicht in ihrer künstlerischen
Spannweite vom Tragischen durchs heiter Beistreiche bis
zum Burleskkomischen, und man wäre in Verlegenheit, zu
sagen, was ihr besser darzustellen gelang: die qualvolle Ge¬
wissensangst einer sündigenden und sich selbst ver¬
urteilenden Dame aus den wohlhabenden und gebildeten
Gesellschaftskreisen in der tragischen Satire „Die Toten
schweigen“ von Arthur Schnitzler oder die keifende Ge¬
schwätzigkeit einer Klatschbase aus der Wiener Vorstadt in
einer der wirksamsten Humoresken Chiavaccis
„Kommen S' bald wieder!" Jedes dieser Stücke las Frau
Schratt in seiner Art mit einer aus dem Innern quellenden
Kraft vor. Den Uebergang von Schnitzlers poesievollem
Seelengemälde zur Humoreske bildete zunächst die zwischen
Ernst und Heiterkeit spielende Reisegeschichte aus Italien
„Ja oder Nein?“ von Hevesi und dann „Eine dumme
Geschichte“ von Marie v. Ebner=Eschenbach, eines
der geistvollsten Produkte unserer Dichterin. Es dürfte wohl
keiner der vielen Dichterinnen, die sich für die Frauenrechte
einsetzten, gelungen sein, so knapp und so gescheit zugleich
die Geschichte der Frauen in der Kultur darzustellen, wie
der Ebner in dieser weisen „Dummen Geschichte“. Nun trug
Frau Schratt Chiavaccis Humoreske mit allermunterster
Wirkung vor und hierauf noch eine Reihe von Gedichten im
niederösterreichischen Dialekt von Stelzhamer,
Schadek und Fraungruber; einen liebens¬
würdigeren Abschluß konnte sie dem Abend nicht verleihen
und das Publikum gab seinem warmen Danke in lang¬
anhaltendem Beifalle Ausdruck.