I, Erzählende Schriften 8, Die Toten schweigen, Seite 21

8. Die Toten schweigen

heute taciturn und wütig, morgen redselig, übermütig und
neckend, recht (seufzt die Herder) einem Chamäleon gleich
und längst, wie er's selbst im Scherze nennt, schon in Er¬
furt, wenn die Leute glauben, er wäre noch in Weimar,
und immer verändert, abgeworfene Häute hinter sich, immer
den verzagenden Freunden wieder entrückt, und immer doch,
wie er's auch treiben und sie verwundern und verwirren
mag, bei sich im Stillen fest gewiß, daß ihm gottgeführten
Menschen doch alles zuletzt zu Nutz und Frommen aus¬
schlägt und gedeihen muß, weil's eben nicht er ist, der es
macht, sondern es macht ihn. Die Welt und alles Leben,
eigenes und fremdes, jetziges und einstiges, nahes und
fernes, Wahrheit und Wahn, Offenbarung und Geheimnis,
des Menschen Art und das Wachsen der Pflanzen und die
Verwandlungen der Tiere, der Steine tiefverborgen wir¬
kenden Trieb und der Sterne ewig gleichgestellten Lauf
aus, wie ein Quell, unterirdisch versammelt, plötzlich aus
dem Felsen aufspringt. So steht dieser einzige Mensch ganz
willenlos, ganz triebmäßig, ganz naturhaft vor uns da,
ist oder ein übriggebliebener Gott. Sein Wunder lernen
wir nicht aus, und je mehr es scheint, daß wir hoffen dürfen,
uns ihm mit dem Verstande zu nähern, desto weiter finden
wir uns unversehens wieder von ihm entfernt. Denn in¬
dem wir die höchste Kultur in ihm verehren, zu der sich
jemals ein Deutscher herangebildet hat und ihr nun in Ehr¬
furcht nachzufolgen gewillt sind, werden wir mit Schrecken
gewahr, daß kein Weg des Gedankens zu ihm führt, weil
ihn erkennen so wenig ihm nahe kommen heißt, als der
Astronom sich vermessen darf, selbst ein Stern zu werden,
deshalb, weil er einen ausgerechnet hat. Ja, diese einzige
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Naturbegebenheit, die Goethe war, auch nuc zu begreifen,
müssen wir immer wieder verzagen, wie doch auch er selbst
mit einer hilflosen Verwunderung, mit einer nie verlöschen¬
den Andacht vor dem Inkalkuloblen, Inkommensurablen
seiner Existenz stand und nicht müde wurde, das unerforsch¬
liche Geheimnis seines eigenen Lebens und wie er darin,
einem Nachtwandler gleich, ahnend bis ans Herz der Natur
drang, immer wieder mit dankbarem Erstaunen zu betrach¬
ten. Und wir folgen ihm und lassen nicht ab, seinem Werden
nachzugehen und es nach dem Woher, Wie und Warum
auszufragen, von welchen dieses Phänomen eines Menschen,
der ganz Natur und dem die Kunst angewachsen war wie
der Apfel am Baum, wie der Strahl an der Sonne, ab¬
zuleiten und vor unseren armen Verstand zu bringen wäre.
Keinem glückt es. Jeder holt einen anderen Goethe her,
tausend Goethe sind's, der Goethe ist's nie. Und auf unsere
Fragen alle gibt's zuletzt nur eine Antwort und nur sie
klärt alles Geheimnis auf: er hat diese Mutter gehabt, die
Frau Rath! Seht sie euch an, und das Wunder ist auf¬
getan: er hatte ja die Natur zur Mama.
Auf den ersten Blick ist ein Gegensatz zwischen Mutter
und Sohn, wie sich ein größerer gar nicht denken läßt.
Scheint er ganz außerhalb der Menschheit zu stehen, so
steht sie mitten drin, und wenn er über alle Begriffe sich
von uns entfernt, so finden wir in ihr überall uns wieder,
uns selbst, die allgemeine Menschenweise, freilich auf das
reinste und vollkommenste dargestellt. Nichts ist in ihr,
wodurch sie irgendwie von einer gesunden und vergnügten
Bürgerin ihrer Zeit abstechen würde, nirgends sondert sie
sich, Seltenes oder Seltsames hat sie gar nichts. Nie wun¬
dert man sich darüber, wie sie ist; eigentlich könnte man
sich ehen wundern, daß nicht jede so ist, und man hat auch
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