I, Erzählende Schriften 8, Die Toten schweigen, Seite 23

8. Die Toten schweigen
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sie was freut, ist es so stark, daß sie gleich „deckenhoch“
springen möcht' und leicht „vor Freude und Wonne wie
betrunken“ wird und eine Zeit braucht, bis es sich erst
„etwas zu Boden setzt und ihre Vernunft wieder zu Hause
kommt“, aber wird sie dann einmal von ihrer „schwärme¬
rischen Einbildungskraft“ in Trübsal und Bitternis gestürzt,
so kann sie auch sentimental wie eine schmachtende Mamsell
sein: „Vor mich ist alles vorbey — mir mir ist aus —“
seufzt sie, als Unzelmann nach Berlin geht. Nur dauert's
bei ihr nicht lang, gleich hat sie sich wieder, und dann
heißt's wieder: „Ach! Es gibt doch viele Freuden in un¬
seres Lieben Herr Gottes seiner Welt!“ Fünfundsechzig
Jahre ist die Frau bei diesem Freudenschrei. Und wie's
ihre Art ist, dann oft plötzlich ein stockernstes Gesicht an¬
zustecken und zwei Minuten philosophisch zu sein, fügt sie
noch hinzu, den Geheimrat belehrend: „Nur muß mann sich
aufs suchen verstehn — sie finden sich gewiß — und das
kleine nicht verschmähen — wie viele Freuden werden zer¬
tretten — weil die Menschen meist nur in die Höhe gucken
und was zu ihren Füßen liegt, nicht achten. Das war
einmal wieder eine Brühe von Frau Aja ihrer Köcherrey.
Lebe wohl!“ Ja, darin war sie groß, in d.esem Frauen¬
talent, sich aufs Suchen der Freuden zu verstehen! Weil
sie nämlich mit ihrer Sehnsucht nicht in die weite Welt
ging, sondern sich weiblich ans Nächste hielt, aufs Nächste
bedacht, ans Nächste, wo sie zugreifen kann, angeschlossen,
und von allem abgewendet, wo sie nicht helfen kann. „Begen
des Krieges wachsen mir auch keine grauen Haare — das
was ich neulich an Ihnen schriebe — daß, wenn es in
Weimar gut mit meinen Lieben geht und steht, mich das
lincke und rechte Reinufer weder um Schlaf noch appetit
bringt — ist noch heut dato meine Meinung.“ So schrieb
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sie ihrer lieben Tochter aus dem Kriegslärm, in der größten
deutschen Not. Ist's nicht jeder Frau aus dem Herzen ge¬
sprochen? Und überhaupt geschieht's einem ja, daß, wenn
man ihre Briefe liest, ihre Worte hört, ihr Wesen ver¬
ninmt, jeder an die Frau denken muß, die er lieb hat.
Die hätte das auch sagen können, denkt man stets; sie würde
sich nur vielleicht nicht trauen. Und das ist vielleicht das
Einzige, was die Mutter Goethes vor den anderen Frauen
voraus hat: daß sie sich getraut hat. Wie sonst eine Frau
nur ist, wenn sie sich unbelauscht glaubt oder unversehens
einmal die Frauenart verrät, die doch immer verheimlicht
und umgelogen und verstellt werden soll, so hat sich die
Frau Rath ganz ungeniert gezeigt, mit der unbefangenen
Sicherheit natürlicher Menschen, die sich nicht verbieten
lassen, so zu sein, wie sie sind, und das zu tun, was es sie
treibt, weil das der liebe Gott verantworten soll, der's
ihnen eingegeben hat, und die nun getrost alles aussprudeln,
was in ihnen ist. Wie's ihr durch den Kopf fliegt, so fängt
sie's ein; wie's ihr im Herzen sitzt, so muß sie sein. Wes¬
halb man auch gar nie dazu kommt, einmal zu fragen, ob
es recht ist oder nicht anders sein sollte. Sie ist, wie sie
sein muß, und zweifelt nicht un sagt zu sich Amen und
Punktum. Und kann es und darf es, weil nichts an ihr je
gehemmt oder umgebogen oder verstört worden ist: sie ist
nicht erzogen worden, darum ist sie unverdorben geblieben.
Ihr Glück war, der Schulmeister hat ihr gefehlt. Sie kann
kaum recht schreiben, die Gedanken sind „schlecht gepackt,
ohne Komma, ohne Punkt“. Bettina hat gesagt: „Frau
Rat, sie hat eine recht garstige Hand, eine wahre Katzen¬
pfote,“ und klagt, daß sie niemals herauskriegen kann, was
sie in ihren „chaldäischen und hebräischen Buchstaben“ ver¬
zeichnet hat. Und sie selber gesteht: „Daß das Bustawiren
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