I, Erzählende Schriften 8, Die Toten schweigen, Seite 25

8. Die Toten schweigen

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Schwierigkeiten erhoben sich nicht von seiten
der türkischen Regierung, sondern die Orient
bahn zeigte sich als österreichische Gesellschaft
wenig beeilt, den Transport auszuführen, und
sie berief sich auf ihr Cahier de Charge. Die
Erlaubnis des hiesigen Valis wurde als unge
nügend erklärt und so mußte erst die schrift
liche Ermächtigung der türkischen Regierung in
Konstantinopel eingeholt werden.
Oesterreich=Ungarn. Eine Deputation ita¬
lienischer Reichsratsabgeordneter über¬
brachte dem Leiter des Unterrichtsministeriums
die Forderungen der Italiener auf die Er¬
richtung einer italienischen Univer¬
sität.
Spanien. Das Madrider Blatt „El Uni
verso“ meldet, daß das englische Königspaar,
der deutsche Kaiser und der österreichi¬
sche Thronfolger in Vertretung des Kaisers
Franz Joseph, sowie vielleicht auch andere
Staatsoberhäupter kommendes Jahr dem spa¬
nischen Königspaare Besuche abstatten wer
den. Der Zeitpunkt dieser Besuche sei nock
nicht festgestellt. Der Besuch des englischer
Königspaares und der des deutschen Kaisers
würden in einem Hafen Nordspaniens statt
finden.
Rußland. In der Duma ereigneten sick
stürmische Szenen während der Fortsetzung de
Debatte über die Agrarfrage. Miljuckof
griff den Adel heftig an, worüber die Rechte
in große Erbitterung geriet.
Asien. In Peking herrscht vollkommene
Ruhe. 6000 Mann nach europäischer Methode
ausgebildete Truppen halten die Ordnung in
der Stadt aufrecht.
Abende für Literatur und Kunst.
2. Hermann Bahr über Arthur
Schnitzler.
sch. Der Lesezirkel Hottingen hat
noch selten einen glücklicheren Griff getan, als
da er den Wiener Kritiker und Romancier Her
mann Bahr einlud, über Arthur Schnitzler bei
uns zu sprechen. Schnitzler ist unserm Publi¬
kum vor allem durch das Theater bekannt ge¬
worden. Wäre Zürich, was es noch heute nicht
ist, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren ein lite¬
rarisches Zentrum gewesen, so wäre ihm Bahr
noch vertrauter gewesen als Schnitzler; denn
hier in Zürich, im Verlagsmagazin von I.
Schabelitz, sind die ersten Werke Bahrs erschie
nen: „Die Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle“
ein Buch, das noch ganz von dem volkswirt¬
schaftlichen Studium Bahrs Zeugnis ablegte
„Die neuen Menschen“ ein Drama, in dem sich
Bahr der damaligen neuen, gärenden literari¬
schen Richtung anschloß; „La Marquesa d’Amae
gal“, eine Bluette, die, wäre sie in Paris er¬
chienen, ihren Autor von heut auf morgen be
rühmt gemacht hätte; das Drama „Die große
Sünde“, und die gesammelten Aufsätze „Zu¬
Kritik der Moderne“. Alle diese Werke erschie
nen in Zürich. ohne daß Zürich“ hanne Matie

P
menhang mit unsern österreichischen Zuständen
haben. Aehnliches wie im Bauwesen erlebten
wir in der Musik. Im Bauwesen war es Olbrich,
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der, gesund durch und durch, ein ungeheures lu¬
daraus i
stiges Lachen anschlug und uns aufruttelte, zu
Daß dies
bauen, wie es Oesterreichs Empfinden ent¬
liges Ver
sende ein
ker Hugo Wolf. Der lachte nicht, wie Olbrich
eine dämonische Natur, verzehrte er sich im Ra¬
kurrenzne
sen und Toben gegen die falsche Kunst. In der
Bahnstati
Literatur lebte man jahrelang im Glauben, man
klamepla
könne Literatur machen, indem man Vorbilder
pachtete
aus dem deutschen Reich nachahme. Da kamen
diese Fi
einige junge Leute, die über die Literatur dach¬
Es wurd
ten wie Hugo Wolf über die Musik und Olbrich
seine Ha
über die Baukunst. Sie litten an einem merk¬
läugnete
würdigen Dilemma. Auf der einen Seite lebte
schaft zu
in ihnen das Gefühl für ein neues Oesterreich
Zürich
welches seine alten Fesseln sprengt, also ein
an die B
Gefühl gegen das Alte, auf der andern Seite
ist rechts!
fühlten sie sich innerlich gewarnt vor der von
außen her importierten künstlichen Bildung, an
Krawal
deren Stelle sie eine aus dem eigenen Boden
vom Arbe
erwachsene Bildung setzen wollten. So wollten
geschäfte
sie erneuen auf der einen Seite und auf der an¬
straße abs
dern waren sie konservativer als die frühern
spiel vor
österreichischen Literaten; denn ihr Verlangen
meister un
war, das Wurzelechte stärker auszudrücken als
Körperver
jene. Der erste, reichste unter den jungen Leu
klagt. Au
ten von damals — es war ums Jahr 1890
wurde auc
herum — war Arthur Schnitzler. Sohn eines
der Beteili
berühmten Professors und Arztes, der der Lieb¬
Anklage n
lingsarzt der großen Schauspieler war, wuchs
den Bursch
Schnitzler in der Burgtheateratmosphäre auf.
von Flugb
25 Jahre alt geworden, war er selbst Arzt. Einer
des Boyko
jener, die durch Patienten fast nie behelligt
zu vertrei
werden und die darum Zeit für angenehmere
ergaben, d
Sachen haben. So sah er in seinem Sprech¬
ohne weite
zimmer statt der Patienten seine Dichter: den
und durch
echzehnjährigen Hoffmannsthal, der damals
die Aussa
unter dem Namen Loris schrieb, Beer=Hof¬
d
machung
mann, Felix Salten, den Maler Beraton. Das
meister sel
Grundgefühl Aller war, das Leben nicht zu ver¬
beantragte
säumen. Wir hatten eine Todesangst: in ganz
Punkten u
Europa bricht eine neue Zeit an, und diese un¬
bis zu eine
geheure Entwicklung könnte an Wien, in dem
ich nichts rühren durfte, vorübergehn
Mitternach
* * *
Wenn wir dann, nachdem wir uns heiser und
Netzgermei
heiß geredet hatten, auf unsern nächtlichen Gän¬
hielten all
gen durch das stille, schlafende, von Hausmei¬
Angeklagte
stern bewachte Wien gingen, dann geschah es
fünf Tage
plötzlich, daß unsere Hitze verflog, unsere Angst
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Tage.
chwieg und einer den andern anstieß: „Schau,
noch eine
die Karlskirche!“ oder: „Schau den Dunst über
einem Ve
der Potivkirche!“ und dann spürten wir das
jungsford
andere; die ungeheure Rührung in uns über
Zivilweg
dieses alte Oesterreich, aus dem wir doch so gern
erausgekommen wären. Aus diesem Gegensatz
können wir uns nicht befreien. Das Merkwür¬
dige an Schnitzler ist, daß er mit großer, ein¬
ziger Gerechtigkeit alle Widersprüche im öster
h. j. C
eichischen Wesen gleichmäßig ausdrückt, ja, daß
jestrigen
ihn diese Widersprüche immer wieder produktiv
starre Ti
nachen. Er fängt mit Anatol an, dem etwas
ind bew
dlasierten Wiener, der hinüber blickt „nach
Rrei So
Europa“, mit allen Dingen aber nur spielt.
Abend z
Kaum hat er diesen Typus dargestellt, regt sich
Dokume
In ihm das Gefühl: das ist noch nicht alles. Und#